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Der dunkle Grenzbezirk

Der dunkle Grenzbezirk

Titel: Der dunkle Grenzbezirk
Autoren: Eric Ambler
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dachte! Damals hatte er sich ganz ähnlich gefühlt wie jetzt. In jenem Jahr hatte er wie ein Verrückter für die letzte Mathematik-Prüfung gebüffelt. Fünfzehn Stunden am Tag, viel zuviel für einen jungen Menschen. Kein Wunder, daß er einem Nervenzusammenbruch nahe gewesen war, kein Wunder, daß ihm der diplomatische Dienst plötzlich so begehrenswert erschienen war. Aber er hatte ja schon seit Kindesbeinen ein Faible dafür gehabt, und in seinen Tagträumen hatte er sich als graue Eminenz hinter der Szene gesehen, er hatte von Geheimverträgen, der Herstellung freundschaftlicher Beziehungen und bühnenreifen Intrigen zur Musik von Mozart, Gluck und Strauss geträumt, alle unter seiner Führung mit Metternich und Talleyrand im Hintergrund. Merkwürdig auch, wie solche Tagträume einen hartnäckig verfolgten. Ein Teil des Gehirns wurde zu einer perfekten Verstandesmaschine, der andere aber wanderte durch dunkle Grenzbezirke in geheimnisvolle Länder, wo Abenteuer, romantische Liebe und plötzlicher Tod den Reisenden erwarteten.
    Die diplomatische Karriere, das hatte er unterdessen erfahren, brachte wenig Abenteuer und selten einen plötzlichen Tod mit sich, und die romantische Liebe in Gestalt einer reifen Frau, der Frau des Juniorpartners seines Vaters, hatte ihn zurück an die Arbeit geschickt. Er hatte eine unerklärliche und hoffnungslose Passion gehätschelt, die, wie er sich nun klar wurde, nicht ganz eine Woche dauerte. Er seufzte.
    Er dachte immer noch darüber nach, wie unrealistisch seine jugendlichen Torheiten gewesen waren, als er sich im Speisesaal zu Tisch setzte. Langsam verzehrte er sein Steak. Er war allein bis auf einen rundlichen, weißhaarigen Mann, dem er keine Beachtung geschenkt hatte. Als er jedoch von seinem Teller aufsah, bemerkte er zu seinem Erstaunen, daß er fixiert wurde.
    »Schöner Tag heute«, bemerkte der Weißhaarige, als sich ihre Blicke trafen.
    »Ja«, sagte Professor Barstow, und um nicht unhöflich zu erscheinen, fügte er noch hinzu, »ein sehr schöner Tag.«
    Er fühlte sich immer ein wenig unbehaglich, wenn Fremde ihn ansprachen, und machte keinen Versuch, das Gespräch fortzusetzen. Aber der Weißhaarige insistierte.
    »Bleiben Sie in Launceston, Sir?«
    Professor Barstow schüttelte den Kopf.
    »Ich fahre weiter nach Truro«, gab er zur Antwort und fragte höflich: »Und Sie? Bleiben Sie in diesem Hotel?«
    Der Weißhaarige nickte geistesabwesend. Dann schien er einen Entschluß zu fassen, rückte seinen Stuhl näher an Professor Barstows Tisch und beugte sich mit ernster Miene nach vorn.
    »Vor sechs Monaten war ich in China. Davor war ich in Südamerika. Und davor war ich in der Türkei. Ich bin sechs Jahre nicht mehr in England gewesen und habe mich sechs Jahre aufs Heimkommen gefreut. Jetzt bin ich zu Hause, und was finde ich?«
    Professor Barstow, den das nur mäßig interessierte, nickte ernst. Wahrscheinlich hatte er hier irgendeinen Verwaltungsbeamten aus den Kolonien vor sich. All diese Leute waren notorische Schwätzer.
    Der Weißhaarige schlürfte dramatisch an seinem Kaffee.
    »Nichts«, sagte er dann, »ganz einfach nichts. Ich bin jetzt einen Monat zu Hause. Die ersten drei Tage entzückte mich der Anblick grüner Felder und gestutzter Hecken. Jetzt langweilt er mich. Alles, was ich finde, ist eine besonders gefährliche Spezies des ägyptischen Moskitos und eine Landschaft voller Tanksäulen.«
    »Übertreiben Sie da nicht ein wenig?«
    »Vielleicht«, antwortete der andere düster, »aber wenn man seine Seele mit Erwartungen genährt hat, ist die Wirklichkeit oft enttäuschend.«
    Der Professor, der befürchtete, daß das Gespräch eine Wendung ins Sentimentale nehmen könnte, lenkte ab.
    »Sie leben im Ruhestand?«
    Der Weißhaarige schaute ihn einen Moment an, bevor er antwortete. Der Professor war nicht leicht zu beeindrucken, aber es schien ihm nun, daß der erste Eindruck, den er von seinem Gegenüber gehabt hatte, falsch gewesen sein mußte. Die plumpe Jovialität war verschwunden, unter buschigen Augenbrauen sahen kühle, berechnende, furchtlose Augen hervor. Der Mann ignorierte die Frage.
    Nachdenklich sagte er: »Entschuldigen Sie, Sir, aber mir scheint, als hätte ich Ihr Gesicht schon irgendwo gesehen.«
    Der Professor spürte mehr als er sah, wie ihn die kalten Augen musterten, während er antwortete:
    »Vor ungefähr einem Jahr«, sagte er, »war ich zwei Tage lang das, was die Journalisten als Sensation bezeichnen. Ich machte
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