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Der dunkle Fluss

Der dunkle Fluss

Titel: Der dunkle Fluss
Autoren: John Hart
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»Er hätte es sowieso gehört, Adam. Besser, er erfährt es von mir, dass du wieder da bist, als von irgendeinem Idioten beim Lunch an der Theke. Oder vom Sheriff. Er sollte wissen, dass du verletzt bist, damit er sich nicht wundert, wenn du heute nicht bei ihm auftauchst. Ich hab dir ein bisschen Zeit verschafft, damit du dich auskurieren und wieder berappeln kannst. Ich dachte, das kommt dir entgegen.«
    »Und meine Stiefmutter?«
    »Sie ist im Haus geblieben. Sie wollte nichts mit mir zu tun haben.« Robin brach ab.
    »Oder mit mir.«
    »Sie hat gegen dich ausgesagt, Adam. Lass es gut sein.«
    Ich drehte mich immer noch nicht um. Nichts lief so, wie ich es gehofft hatte. Meine Hände legten sich auf die Thekenkante und umklammerten sie. Ich dachte an meinen Vater und an die Kluft zwischen uns.
    »Wie geht's ihm?«, fragte ich.
    Sie schwieg kurz. »Er ist älter geworden.«
    »Geht's ihm gut?«
    »Das weiß ich nicht.«
    Als ich ihren Ton hörte, drehte ich mich doch um. »Was ist?«, fragte ich, und sie hob den Kopf und sah mich an.
    »Es lief ganz ruhig ab, weißt du, sehr würdevoll. Aber als ich deinem Vater sagte, dass du nach Hause gekommen bist, hat er geweint.«
    Ich ließ mir meinen Schrecken nicht anmerken. »Er hat sich aufgeregt?«
    »Das glaube ich nicht.«
    Ich wartete.
    »Ich glaube, er hat vor Freude geweint.«
    Robin wartete darauf, dass ich antwortete, aber ich konnte es nicht. Ich schaute aus dem Fenster, damit sie nicht sah, dass auch mir die Tränen in die Augen stiegen.
    Robin ging einige Minuten später, um pünktlich zur Sieben-Uhr-Besprechung auf dem Revier zu sein. Ich schluckte ein paar Percocet und zog ihre Bettdecke um mich herum. Der Schmerz grub sich einen Tunnel durch meinen Kopf: Hammerschläge an den Schläfen, ein kalter Nagel am Haaransatz. In meinem ganzen Leben hatte ich meinen Vater nur zweimal weinen sehen. Als meine Mutter starb, hatte er tagelang geweint — langsame und unaufhörliche Tränen, die aus den Furchen seines Gesichts zu quellen schienen. Und dann Freudentränen — einmal.
    Mein Vater hatte jemandem das Leben gerettet.
    Das Mädchen hieß Grace Shepherd. Ihr Großvater war Dolf Shepherd, Vorarbeiter auf der Farm und der älteste Freund meines Vaters. Dolf und Grace wohnten in einem kleinen Cottage am Südrand unseres Besitzes. Ich hatte nie erfahren, was aus den Eltern des Mädchens geworden war — nur, dass sie fort waren. Was immer der Grund war, Dolf hatte sich bereit gefunden, das Mädchen allein aufzuziehen. Das war eine Strapaze für ihn — das wusste jeder —, aber er hatte es sehr gut gemacht.
    Bis sie eines Tages davonspazierte.
    Es war ein kühler Tag im Frühherbst. Trockenes Laub raschelte und scharrte unter einem trüben, schweren Himmel. Sie war gerade zwei Jahre alt und machte sich die Hintertür auf, als Dolf annahm, sie sei oben und schlafe. Mein Vater war es, der sie fand. Er war hoch oben auf einer der Weiden, als er sie am Steg unterhalb des Hauses entdeckte. Sie schaute zu, wie die Blätter in der wilden Strömung kreiselten. Noch nie hatte ich gesehen, dass mein Vater sich so schnell bewegen konnte.
    Es spritzte nicht mal, als sie hineinfiel. Sie hatte sich zu weit vorgebeugt, und das Wasser verschluckte sie einfach. Mein Vater stürzte sich mit einem Kopfsprung hinein und kam allein wieder hoch. Ich erreichte den Steg erst, als er schon wieder tauchte.
    Eine Viertelmeile stromabwärts fand ich ihn; er saß im Schneidersitz auf der Erde und hielt Grace Shepherd auf dem Schoß. Ihre Haut war so bleich, als sei sie tot, aber ihre Augen waren weit offen, und sie heulte. Ihr aufgerissener Mund war der einzige Farbfleck an dem grauen Flussufer. Er umklammerte das Kind, als sei nichts anderes wichtig, und er weinte.
    Ich beobachtete ihn einen langen Augenblick, und ich spürte schon da, dass dieser Moment etwas Heiliges war. Aber als er mich sah, lächelte er. »Verdammt, Junge«, sagte er. »Das war knapp.«
    Und dann drückte er ihr einen Kuss auf den Scheitel.
    Wir wickelten Grace gerade in meine Jacke, als Dolf im Laufschritt angaloppiert kam. Der Schweiß lief ihm in Strömen über das Gesicht, und er blieb unsicher stehen. Mein Vater legte mir das Kind in die Arme, machte zwei schnelle Schritte und verpasste dem Großvater der Kleinen einen einzigen Schlag, der ihn zu Boden streckte. Die Nase war gebrochen, keine Frage, und Dolf lag blutend am Flussufer, während sein ältester Freund triefnass und erschöpft den Hang hinauf zum Haus
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