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Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
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sollte deshalb den Plattenspieler bedienen und auf die kleineren Kinder aufpassen, während sie mit den größeren beschäftigt
war, und danach sollte ich den Imbiss servieren. Am Morgen des ersten Termins hielten wir eine Probe ab. Meine Mutter zeigte mir alles, was ich tun sollte, und erinnerte mich daran, dass ich den kleinen Kindern beim Hosezumachen helfen sollte, wenn sie aufs Klo mussten.
    Dann war es so weit, und wir warteten. Die Zeit verging, aber niemand erschien.
    Nach vielleicht einer halben Stunde tauchte eine Frau mit einem Jungen im Rollstuhl auf. Evelyn mit ihrem Sohn, Barry. Seiner Größe nach musste er etwa in meinem Alter sein, aber er konnte nicht sprechen, sondern gab einfach irgendwelche Laute von sich, als würde er sich einen Film anschauen, den niemand anders sehen konnte, und es gäbe gerade eine witzige Szene. Einmal schien auch eine Figur aus diesem Film gestorben zu sein, die Barry besonders gerne mochte, denn er stützte den Kopf in die Hände – was nicht einfach war, da seine Hände und sein Kopf wild herumzuckten – und machte solche schluchzenden Töne.
    Evelyn hatte sich wohl gedacht, dass kreative Bewegung Barry gut tun könnte. Ich fand eigentlich, dass er sich ohnehin schon sehr kreativ bewegte. Aber meine Mutter gab sich enorme Mühe. Evelyn und sie beförderten Barry auf eine der Matten, dann legte meine Mutter eine Platte auf, die sie gerne mochte – das Musical Guys and Dolls –, und zeigte Barry, wie er sich zu »I’ve Got the Horse Right Here« bewegen sollte. Es sei vielversprechend, was Barry mache, sagte sie zu Evelyn. Aber sich zu einem bestimmten Rhythmus stimmig zu bewegen, war eindeutig nicht Barrys Ding.

    Nach diesem einen Termin wurde der Kurs abgeblasen, aber Evelyn und meine Mutter freundeten sich an. Evelyn kam oft mit Barry vorbei. Dann kochte meine Mutter Kaffee, Evelyn stellte Barry auf der Veranda ab, und meine Mutter trug mir auf, ihn zu beschäftigen, während Evelyn redete und rauchte und meine Mutter ihr zuhörte. Ab und an drangen Satzfetzen wie Unterhalt nicht bezahlt oder drückt sich vor der Verantwortung oder ein Kreuz oder der blöde Penner an mein Ohr – von Evelyn, nicht von meiner Mutter –, aber meist konnte ich das Gespräch irgendwie ausblenden.
    Ich versuchte mir Spiele einfallen zu lassen, die Barry interessieren könnten, war aber ziemlich überfordert damit. Einmal, als ich mich furchtbar langweilte, kam ich auf die Idee, in einer erfundenen Sprache mit ihm zu reden, die nur aus Lauten und Tönen bestand, ähnlich wie seine eigene. Ich hockte mich vor seinen Rollstuhl, redete auf ihn ein und gestikulierte dabei mit den Händen, als erzähle ich eine spannende Geschichte.
    Das schien Barry ziemlich aufregend zu finden. Jedenfalls machte er viel mehr Geräusche als vorher. Er johlte und kreischte und fuchtelte viel wilder mit den Armen als gewöhnlich, was Evelyn und meine Mutter dazu veranlasste, auf die Veranda rauszukommen und nach uns zu schauen.
    Was ist denn hier los, sagte Evelyn. Ich sah ihr an, dass sie alles andere als begeistert war. Sie stürzte zu Barry hinüber und strich ihm das Haar glatt.
    Ich verstehe nicht, wie du erlauben kannst, dass dein Sohn sich so über Barry lustig macht, sagte Evelyn zu meiner
Mutter und fing an, Barrys Sachen und ihre Zigaretten einzupacken. Ich habe immer gedacht, wenigstens du hättest Verständnis.
    Sie haben doch nur gespielt, erwiderte meine Mutter. Ist doch gar nichts Schlimmes passiert. Henry ist wirklich ein lieber Junge.
    Aber Evelyn und Barry waren schon im Aufbruch begriffen.
    Danach sahen wir die beiden eigentlich nie mehr, was ich nicht so bedauerlich fand, aber ich wusste, dass meine Mutter gerne eine Freundin gehabt hätte. Und nach Evelyn kam uns überhaupt niemand mehr besuchen.

    Einmal war ich bei einem Jungen aus meiner Klasse, Ryan, zum Übernachten eingeladen. Er war grade erst in die Stadt gezogen und hatte noch nicht mitgekriegt, dass ich jemand war, den niemand einlud. Deshalb sagte ich zu. Als sein Vater mich abholen kam, wartete ich schon, eine Plastiktüte mit Zahnbürste und Unterwäsche zum Wechseln in der Hand.
    Ich denke, ich sollte mich erst noch mal deinen Eltern vorstellen, sagte Ryans Vater, als ich ins Auto steigen wollte. Damit sie sich keine Sorgen machen.
    Meine Mutter und ich sind nur zu zweit, sagte ich. Und sie hat es mir erlaubt.
    Ich schau nur mal kurz rein und sag guten Tag, erwiderte er.
    Ich weiß nicht, was meine Mutter zu ihm gesagt hat,
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