Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Duft des Sommers

Der Duft des Sommers

Titel: Der Duft des Sommers
Autoren: Joyce Maynard
Vom Netzwerk:
einen uralten Leotard trug, verstand ich jetzt, dass jemand sie hübsch finden konnte. Und nicht nur das. Die meisten Mütter, die man an der Schule zu sehen bekam, wenn sie um drei Uhr am Auto warteten, um die Kinder abzuholen, oder ins Gebäude hetzten, um vergessene Hausaufgaben abzugeben, waren ziemlich aus dem Leim gegangen, vermutlich wegen der Babys. Das war auch der jetzigen Frau meines Vaters passiert, Marjorie, obwohl sie jünger war, wie meine Mutter immer betonte.
    Sie dagegen hatte ihre Figur behalten. Einmal hatte sie ihre alten Tanzkostüme für mich angezogen, deshalb wusste ich, dass sie ihr noch passten. Und obwohl sie jetzt nur noch in unserer Küche tanzte, hatte sie immer noch die Beine einer Tänzerin. Die Frank jetzt betrachtete.
    Ich werde Sie nicht belügen, sagte er langsam, während er meine Mutter musterte. Sie ließ jetzt Wasser in die Kanne der Kaffeemaschine laufen. Vielleicht spürte sie, dass er sie anschaute. Jedenfalls ließ sie sich viel Zeit.
    Und dann schien Frank eine Minute lang gar nicht in der Küche zu sein, sondern irgendwo in weiter Ferne. Wenn man ihn anschaute, kam es einem vor, als sähe er einen Film neben unserem Kühlschrank, an dem immer noch das inzwischen verblasste kopierte Foto von meinem afrikanischen Brieffreund Arak hing, festgehalten von solchen Magneten mit den Kalendern vergangener Jahre darauf. Es schien einen Moment lang, als blicke Frank auf irgendeine Stelle im Weltraum anstatt auf die Dinge in unserer Küche,
in der ich in meinem Rätselbuch blätterte und meine Mutter Kaffee kochte.
    Ich habe mir das Bein verletzt, sagte er, das Bein und den Kopf, weil ich aus einem Fenster im zweiten Stock des Krankenhauses gesprungen bin, wo man mir den Blinddarm rausgenommen hat.
    Im Gefängnis, fuhr er fort. So bin ich geflohen.
    Manche Leute erzählen erst alles Mögliche, wenn sie eine Frage beantworten müssen, die sie schlecht aussehen lässt (wenn man sie zum Beispiel fragt, wo sie arbeiten, und sie sind bei McDonald’s, behaupten aber erst mal, sie seien Schauspieler oder wollten demnächst Medizin studieren. Oder sie stellen alles anders dar, als es ist, indem sie sagen, sie seien im »Handel« tätig, während sie in Wirklichkeit am Telefon Leuten ein Zeitungsabo andrehen müssen).
    Bei Frank war das nicht so, als er uns einweihte. Staatsgefängnis in Stinchfield, sagte er und zog sein Hemd hoch, um uns eine dritte Wunde zu zeigen, die man ansonsten nicht bemerkt hätte. Sie war mit einem Verband verklebt. Die Stelle, wo man ihm den Blinddarm rausgenommen hatte. Erst vor kurzem, wie es aussah.
    Meine Mutter drehte sich um und sah Frank an. In einer Hand hielt sie die Kanne, in der anderen einen Becher, in den sie jetzt Kaffee goss. Dann stellte sie Trockenmilch und Zucker auf den Tisch.
    Wir haben keine Sahne, sagte sie.
    Macht nichts, erwiderte Frank.
    Sie sind geflohen?, fragte ich ihn. Und jetzt werden Sie von der Polizei gesucht? Das machte mir Angst, aber ich
fand es auch aufregend. Jetzt wusste ich, dass wirklich etwas passierte in unserem Leben. Es konnte schlimm oder sogar furchtbar werden, aber eins stand fest: Auf jeden Fall war etwas anders als vorher.
    Ich wäre weiter gekommen, aber das verdammte Bein hat mich behindert, sagte Frank. Ich konnte nicht rennen. Jemand hatte mich bemerkt, und sie fingen an, mich zu umzingeln, als ich in diesem Supermarkt untertauchte, in dem ich Sie gefunden habe. Da haben sie meine Spur verloren, draußen auf dem Parkplatz.
    Frank rührte Zucker in seinen Kaffee. Drei Löffel. Ich wäre dankbar, wenn ich ein Weilchen hier sitzen bleiben dürfte, sagte er. Wäre nicht leicht für mich, wenn ich jetzt gleich wieder da rausmüsste. Ich hab mir irgendwas kaputtgemacht bei dem Sturz.
    Darin waren meine Mutter und Frank sich bestimmt einig: dass es nicht leicht war, in die Welt rausgehen zu müssen.
    Ich falle Ihnen nicht zur Last, sagte er. Ich mache mich nützlich. Und ich hab in meinem ganzen Leben nie jemandem vorsätzlich weh getan.
    Sie können eine Weile bleiben, sagte meine Mutter. Ich muss nur sicher sein können, dass Henry nichts geschieht.
    Der Junge könnte nicht in besseren Händen sein, erwiderte Frank.

3
    Meine Mutter war eine richtig gute Tänzerin. Sie tanzte so gut, dass sie in einem Film hätte auftreten können, wenn Filme mit diesem Tanzstil noch gedreht worden wären, was nicht der Fall war. Aber wir hatten ein paar solcher Filme auf Video, und meine Mutter beherrschte einige der Tanznummern.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher