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Der Colibri-Effekt

Der Colibri-Effekt

Titel: Der Colibri-Effekt
Autoren: Helmut Vorndran
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flüchtender Elch. Aber, und das war eine feststehende Tatsache,
weder in Deutschland noch Österreich noch in der Schweiz gab es Elche. Hatte es
nie gegeben. Die tauchten erst viel weiter nördlich auf der Landkarte auf. Ihm
wurde kalt, und diesmal hatte es nichts mit den Außentemperaturen zu tun.
    Als Franz
Haderlein am Tatort eintraf, war vor dem botanischen Anwesen des Barons von
Rotenhenne schon der Teufel los. Die Polizei sperrte gerade mit rot-weiß
gestreiftem Trassierband das komplette Grundstück ab. Haderlein hatte nur ein
kurzes Nickerchen machen können, als ihn der Anruf seines Kollegen erreichte.
Sofort hatte er sich auf den Weg gemacht. Derartig ungewöhnliche Mordfälle
kamen nicht alle Tage vor. Und das, was ihm Lagerfeld kurz und knapp am Telefon
berichtet hatte, war dermaßen unglaublich, dass er es zuerst nicht hatte
glauben wollen. Doch Bernd hatte ihm sehr schnell klargemacht, dass ihm nach
allem anderen zumute war als nach Scherzen.
    Haderlein
durchschritt das Tor des kleinen Gutshofes und durchquerte den Innenhof auf dem
Kiesweg, um in den dahinterliegenden Garten zu gelangen. Dort bot sich ihm ein
phantastischer Anblick. Gleich links von ihm wurde ein etwas älterer Herr von
seinen Handschellen befreit, während etwas weiter entfernt, in einem
angrenzenden kleinen Gartengrundstück, die Spurensicherung in ihren weißen
Schutzanzügen mit dem dort stehenden Haus beschäftigt war. Cesar Huppendorfer
koordinierte das Treiben. Gerade als Haderlein sich zu seinen Kollegen gesellen
wollte, entdeckte er aus dem Augenwinkel seine Riemenschneiderin. Das kleine
Ferkel war in dem ganzen Trubel anscheinend unbemerkt in die Wiese getrottet,
schaute nun in Richtung See und sah dabei nicht besonders glücklich aus.
Haderlein ließ den kriminalistischen Aufstand erst einmal links liegen und
begab sich zu seiner rosafarbenen Mitarbeiterin. Als er sie erreichte, konnte
er die ganze Bescherung sehen. Riemenschneider hatte die Vorderfüße fest in die
Wiese gestemmt, die Hinterbeine weit gespreizt und den kleinen Kopf hoch
erhoben. Sämtliche Haare und Borsten standen dem kleinen Schwein buchstäblich
zu Berge, sein Blick war starr nach vorn gerichtet, und seiner Kehle entrang
sich ein Knurren von einer solchen Tiefe, dass Haderlein erschauerte. Einen
solchen Laut hätte er niemals von seinem Ferkel erwartet. Riemenschneider war
ganz eindeutig auf etwas fixiert, das ihr eine panikartige Angst einjagte.
Haderlein blickte sich suchend um, aber außer dem Gartensee und den daraus sich
erhebenden Obstbäumen konnte er nichts erkennen.
    »He,
Riemenschneider, was ist mit dir los, zum Kuckuck? Komm her, mein kleines
Schweinchen!«
    Doch auch
die Stimme ihres Herrn und Meisters vermochte bei der Riemenschneiderin keine
Verhaltensänderung zu bewirken. Sie stand weiterhin mitten in der Wiese und
knurrte abgrundtief drohend. Als Haderlein noch einmal in Richtung See schaute,
erblickte er endlich, was Riemenschneider augenscheinlich auf die Palme
brachte. Neben der künstlich angelegten Staumauer hockte ein Biber, und zwar
ein besonders großes und stattliches Exemplar. Er schaute die Riemenschneiderin
genauso böse an wie sie ihn. Haderlein musste laut lachen, ging zu seinem
Ermittlerschweinchen hinüber und hob es auf seinen Arm. Das Ferkel ließ dies
zwar nur widerwillig mit sich geschehen, gab aber notgedrungen der menschlichen
Gewalt nach. Als Haderlein mit ihm zum Tatort zurückstiefelte, beruhigte es
sich langsam wieder und leckte schließlich sogar das Gesicht seines
Kriminalhauptkommissars ab.
    »Ist ja
gut, ist ja gut. Der hat dir wohl einen gehörigen Schrecken eingejagt«, sagte
er lachend. »Aber ich geb dir einen guten Rat, du Angsthase. Halt dich von
diesen Wasserbaumeistern fern, mit ihren doppelt so großen Zähnen können die um
einiges kräftiger als du zubeißen. Versprichst du mir das, ja?« Riemenschneider
leckte ihm weiter das Gesicht, was Haderlein als Zustimmung deutete. Er stellte
die Riemenschneiderin wieder auf ihre vier Füße, griff nach ihrer Leine und
begab sich zu Lagerfeld, der noch immer lebhaft mit dem älteren Herrn in der
dunkelbraunen Strickweste diskutierte.
    Okay, es
war also ein Elch gewesen. Als er sich wieder im Griff hatte, fasste er einen
Entschluss. Er würde diesem Bachlauf folgen, bis dieser, so hoffte er, in einen
größeren Fluss münden würde, der wiederum irgendwann in einer Art Zivilisation
endete.
    Er zog
sich die Strickmütze tiefer ins Gesicht und lief los. Die
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