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Der Colibri-Effekt

Der Colibri-Effekt

Titel: Der Colibri-Effekt
Autoren: Helmut Vorndran
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Äste schlugen ihm ins
Gesicht, und seine Schuhe waren schnell durchnässt, da am Bachufer noch immer
reichlich Schnee lag, aber tatsächlich: Bald darauf mündete der Bach in einen
gar nicht so kleinen Fluss. Außerdem ging der Wald in eine nur spärlich
bewachsene, zerklüftete Geröllhalde über, durch die der Fluss mäanderte und
sich schließlich mit reichlich Gefälle nach unten stürzte. Er nahm die Mütze ab
und sah in die bereits wärmende Morgensonne. Wenigstens das Wetter spielte mit.
Es schien Frühjahr zu sein, denn der Schnee schmolz an allen Ecken und Enden. Er
kratzte sich kurz am Kopf, setzte die Mütze wieder auf und folgte dem Fluss auf
seinem Weg bergab.
    »Habt ihr
den Rest des Körpers schon gefunden?«, fragte Haderlein Ruckdeschl beiläufig,
während er aus gebührendem Abstand den blutleeren Kopf betrachtete. Die blonden
langen Haare klebten durch das viele getrocknete Blut wirr an der Haut, die
geöffneten Augen starrten leer und ausdruckslos nach vorn. Haderleins grober
Schätzung nach war der Mann so um die dreißig Jahre alt gewesen, als er starb,
doch weitere Beurteilungen traute er sich für den Moment nicht zu. Er umrundete
den Kopf, um ihn genauer zu inspizieren. Selbst ihm als altgedientem Kriminalen
ging der Anblick an die Nieren. So etwas Abscheuliches hatte er in seiner
Dienstzeit nur selten gesehen.
    »Ja,
haben wir«, seufzte Ruckdeschl, »allerdings ist er in einem ähnlich
bedauernswerten Zustand.«
    »Schon
klar, wenn ihm der Kopf fehlt«, kommentierte Haderlein trocken. »Und wo?«
    »Da
drüben«, erwiderte der Leiter der Spurensicherung und schob zum wiederholten
Mal seine Brille ein paar Millimeter auf der Nase nach oben.
    Haderlein
hob kurz den Kopf und beobachtete, wie sich etliche weiß gekleidete
Spurensicherer im hinteren Bereich des Raums dicht um etwas scharten, das er
aber nicht erkennen konnte. Haderlein überlegte kurz und richtete seinen Blick
dann wieder auf den Kopf, der vor ihm lag, beziehungsweise auf die merkwürdige
Holzkiste, die geöffnet und mit eingetrocknetem Blut besudelt danebenstand.
    »Lagerfeld
hat doch irgendetwas von einer Spieldose erwähnt«, sagte Haderlein, während er
neugierig in die Kiste schaute.
    »Ja, die
ist hier.« Ruckdeschl deutete mit einem langen, dünnen Metallstift auf die
rechte obere Innenseite der Kiste. Direkt unterhalb des Deckelrandes war eine
kleine hölzerne Spieldose angeschraubt. Von ihren niedlichen bunten und
kindgerechten Aufdrucken war allerdings nicht mehr viel zu erkennen, da auch
sie über und über mit Blut beschmiert war, das in seinem eingetrockneten
Zustand eine dunkle, bräunlich rote Farbe angenommen hatte.
    Ruckdeschl
griff mit der rechten Hand, über die er einen dünnen, durchsichtigen
Plastikhandschuh gestreift hatte, an die Unterseite der Spieldose und drehte
mehrmals ein kleines Rädchen. Dann drückte er mit der Linken am oberen Rand des
Döschens einen kleinen Metallstift nach oben, an dem noch die blutverkrusteten
Reste einer Schnur hingen, und sogleich ertönte aus dem Inneren der Holzkiste
eine altbekannte, wenn auch metallisch schnarrende Melodie.
    »Fuchs,
du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her …«
    Haderlein
lief es kalt den Rücken hinunter. In dem Kinderlied versteckte sich eine
Botschaft, so viel war klar, aber was für eine? Und vor allem, für wen war sie
gedacht? Das hier war eine ziemlich schräge Nummer, die von einem nicht minder
schrägen und kranken Hirn inszeniert worden war. Ein abgetrennter Kopf,
zeremoniell zur Schau gestellt, dazu eine musikalische Botschaft in einer
Spieldose. Ruckdeschl bemerkte die Erschütterung Haderleins und zog ihn am
Ärmel zu den Kollegen der Spurensicherung, die er sofort verscheuchte.
    »Macht
mal kurz Pause, Herrschaften«, sagte er, woraufhin sich die Spurensicherer
sichtbar erleichtert vor die Haustür verzogen, um durchzuatmen oder sich eine
Zigarette zu genehmigen. Haderlein sah sich einer grob zusammengezimmerten Kiste
gegenüber, circa einen Meter sechzig mal einen Meter groß, die wahrscheinlich
ursprünglich für die Scheite von Feuerholz gedacht gewesen war. Jetzt
allerdings befand sich der zusammengerollte Körper eines toten Mannes darin,
und der Holzboden der Kiste war vollkommen mit Blut getränkt. Der Leiche fehlte
der Kopf, der Körper lag auf der Seite, und irgendwer hatte eine ganze
Schachtel Zigaretten über den Toten gekippt. Es war die gleiche Sorte
Qualmstängel, die auch auf dem Deckel der anderen Kiste gelegen
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