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Friesenschnee

Titel: Friesenschnee
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Tribut
    Wo blieb die Abkühlung, um die Hitze aus der Stadt zu nehmen? Helge Stuhr hatte sich die ganze Nacht tapfer schwitzend durch sein verquirltes Bettzeug gekämpft, aber selbst nach der Befreiung von seinem T-Shirt wurde er viel zu früh vom Geschrei der unzähligen Raben geweckt, die sich in der Grünanlage um den historischen Kieler Wasserturm niedergelassen hatten.
    Schlaftrunken schlurfte Stuhr zum Balkon, um das Thermometer abzulesen. 25 Grad um 6 Uhr morgens, das musste im Spätsommer nicht mehr sein. Er öffnete alle Fenster und die Balkontür, doch ein Luftzug stellte sich nicht ein, obwohl bereits für den Morgen ein Wetterumschwung mit Kälte und Regen angesagt war.
    Entgegen der Vorhersage spiegelte sich das Licht der aufsteigenden Morgensonne in den vielen schmalen, länglichen Fenstern des alten Wasserturms, der den höchsten Punkt des Kieler Stadtteils Ravensberg markierte. Den prächtigen Anblick des alten Backsteingemäuers nahm er allerdings kaum zur Kenntnis, denn mit gemischten Gefühlen musste er daran denken, dass er dort heute Abend mit Jenny Muschelfang ein Theatergastspiel besuchen würde. Den denkmalgeschützten Turm wollte er zwar immer schon von innen besichtigen, aber ihm graute ein wenig vor dem elitären Kulturpublikum.
    Stuhr schleppte sich zurück ins Bett, doch so richtig einschlafen konnte er nicht mehr. Er begann zu grübeln.
    Wieder einmal über seine Frühpensionierung. Über die wahren Hintergründe, warum er aus dem Landesdienst ausscheiden musste, hatte er zwar eine Vermutung, allerdings fehlten ihm dazu die Fakten. In all den Jahren, seitdem er den Dienst quittieren musste, hatte er sich jedoch nicht getraut, bei seinen früheren Kollegen in der Kieler Staatskanzlei nachzufragen, denn die Wahrheit konnte manchmal ein grausames Gesicht tragen.
    Diese Grübelei am Morgen, die ihm den Schlaf raubte, war nicht mehr auszuhalten. Gleich am Montag würde er seinen ehemaligen Mitarbeiter Dreesen in der Staatskanzlei anrufen.
    Entschieden sprang Stuhr aus dem Bett, um sich nicht weiter in seiner Gefühlswelt zu verheddern. Nachdenklich streifte er sein blaues Holstein-Kiel-Fußballtrikot ›Deutscher Meister 1912‹ über und entschied sich für bequeme Shorts. Bis zum Wetterumschwung würde sicherlich noch einige Zeit vergehen, denn Tiefdruckgebiete kündigen sich in Kiel nicht durch Schönwetterlagen, sondern durch aufkommende Quellbewölkung und zunehmenden Wind an.
    Er beschloss, zur Seebadeanstalt Düsternbrook zu radeln, die direkt an das Hindenburgufer, die langgestreckte Kieler Seepromenade, angebunden war.
    Heute am Samstag war auf dem Blücher kein Markt, und so konnte er den Weg zum Seebad über den erhitzten Asphalt des Platzes abkürzen. Bald radelte er durch Düsternbrook, die vornehmste Kieler Adresse, an der Forstbaumschule vorbei in die bewaldete Lindenallee, die sich bis zum Schiffsanleger Bellevue hinunterschlängelte. Er musste hart bremsen, um nicht auf geradem Weg über die Treppenstufen auf den Anleger zu stürzen.
    Es roch zwar ein wenig nach Gummi, aber letztendlich schaffte es Stuhr noch mit verhaltener Eleganz, sich auf den Radweg des Hindenburgufers Richtung Norden zu retten, ohne in die Kieler Förde zu stürzen. Wenig später kettete er zufrieden wegen des gerade überstandenen kleinen Abenteuers seinen geliebten Drahtesel an einen der Fahrradhalter, bevor er die Holzbrücke zum frisch renovierten Seebad überquerte. Nein, es war nicht das Schwimmen, das ihn hierher zog, denn manchmal verdarben ihm Quallen oder Algen das Badevergnügen. Es war dieser magische Ort, denn ab dem Seebad weitete sich die Förde langsam zur Kieler Bucht hin. Nur ein paar graue Kriegsschiffe und Molen trennten die Badeanstalt noch vom Nord-Ostsee-Kanal, und gegenüber auf der anderen Seite lag am Ausgang der Förde das Ostseebad Laboe mit dem Ehrenmal. Zudem verzierte neuerdings eine trendige Seebar die mehr als 70 Jahre alte Holzkonstruktion.
    Stuhr hatte sich wie immer eine Liege geschnappt und sonnte sich genüsslich auf dem Badesteg. Er liebte es, aus dieser Position das Treiben im Kieler Hafen zu verfolgen. Immer wieder legten am Anleger Düsternbrook die Schiffe der Kieler Fördeschifffahrt an und luden Passagiere und Radfahrer ein und aus.
    Hinter dem Anleger lag in einer alten Villa die Privatschule Düsternbrook. Dort war seine erste Schülerliebe zur Schule gegangen. Auf der Privatschule Düsternbrook gab es bereits seinerzeit kleine Klassen, und das Schulgeld war
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