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Der Colibri-Effekt

Der Colibri-Effekt

Titel: Der Colibri-Effekt
Autoren: Helmut Vorndran
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Schritt nach draußen. Links war der Steg über den Main in den
Schatten des Banzberges getaucht. Obwohl keine Menschenseele zu sehen war,
zerrte Murat, der Berner Sennenhund, wütend an seiner Kette und bellte, als
würde er eine Herde Gemsen verfolgen wollen.
    Dann hörte Lohneis das Rauschen. Die Schützen des rechten Wehrtores
hatten in ihrer Abwärtsbewegung die Wasserlinie des Überlaufs erreicht und
senkten sich noch weiter ab. Der Main begann sich in sein Bett zu ergießen, und
die Wassermassen verwirbelten sich dampfend am unteren Ende des betonierten
Auslaufs.
    Mit wenigen Schritten stand Lohneis wieder vor seinen Anzeigen. Die
Schützen fuhren unaufhaltsam nach unten. War es ein technischer Defekt, oder
lag eine ernst zu nehmende Fehlschaltung in den Tiefen der elektronischen
Bauteile vor? Er überlegte nur kurz, dann zertrümmerte er entschlossen den
ferrariroten Schutzdeckel des Notschalters und legte den schmiedeeisernen
Nothebel mit der großen, fetten Aufschrift » NOTAUS «
um. Zum ersten Mal in seinem Leben.
    Doch nichts passierte. Die Ketten ächzten zwar hörbar unter dem
gewaltigen Wasserdruck, doch sie verrichteten unverdrossen und konsequent ihre
ihnen zugedachte Arbeit weiter. Das Rauschen mutierte langsam in ein tosendes
Brüllen. Fritz Lohneis war verzweifelt. Das durfte doch wohl nicht wahr sein!
Siebenundzwanzig Jahre lang passierte hier überhaupt nichts, kein Blitzschlag,
kein Kamikazeflieger, nicht mal ein Tourist, der die Treppe hinuntergestürzt
wäre, und nun das. Darauf war er 1980 nicht vorbereitet worden, als er seinen
Dienst angetreten hatte.
    Dann fiel sein Blick auf die Axt an der Wand. Eigentlich war sie
dazu gedacht, Schwemmgut, das sich im Wehr verhakt hatte, zu zerteilen und zu
entfernen. Sie war schön und schwer, ihr blanker Eschenholzstiel glänzte. Das
letzte Mal hatte er sie vor einundzwanzig Jahren benutzt, als die alte Weide
vom gegenüberliegenden Ufer auf ein Auto gefallen war. Obwohl er den Baum in
kürzester Zeit zerteilt hatte, war dem Landtagsabgeordneten der CSU und seiner Gespielin damit freilich
nur wenig geholfen gewesen. Die beiden hatten sich einfach entschieden, zur
falschen Zeit unter dem falschen Baum einem Techtelmechtel nachzugehen, das
kein gutes Ende nehmen sollte. Um die Weide hatte es ihm damals wirklich
leidgetan.
    Jetzt nahm er mit einer flüssigen Handbewegung die Axt von der Wand
und stürmte zum grauen Verteilerkasten am Ende des Steges. Hastig fingerte er
den Hauptschlüssel aus seinem umfangreichen Schlüsselbund heraus und öffnete
zum ersten Mal in seinem Arbeitsleben den Verteilerkasten des Überlandwerks.
Schon die zweite Premiere an diesem Abend! Zwar konnte er vier armdicke
Kabelstränge ausmachen, die sich aus dem Boden des Kastens nach oben
schlängelten, um dann in großen, keramischen Verbindungseinheiten zu
verschwinden, zuordnen konnte er sie jedoch nicht. Es gab weder typische Farben
noch aufschlussreiche Beschriftung – nichts. Lohneis war mit seinem
Handwerkerlatein am Ende.
    Hinter ihm verschwand der Wehrsteg bereits in der aufgewirbelten
Gischt. Es half alles nichts. Er hob die Axt hoch über seinen Kopf, und mit
einem »Leckt mich doch alle am Arsch!« rammte er das Lieblingsgerät aller
Holzfäller mitten in die undefinierte Kabelansammlung hinein. Ein blauer Blitz
zuckte, ein Funkenregen sprühte, dann sprang ihm die Axt aus den Händen.
    Schlagartig wurde es ruhiger im Turbinenhaus. Der gleichmäßig hohe
Ton der Generatoren wurde tiefer, die großen Maschinen begannen auszulaufen und
würden in ein paar Momenten stillstehen. Die Reißleine war gezogen.
    Lohneis atmete erleichtert auf. Wenigstens das hatte funktioniert.
Er sah sich um. Nicht nur die Stegbeleuchtung war erloschen, auch Kloster Banz
lag im Dunkeln, genauso wie Reundorf und das nahe Hausen. Soweit er sehen
konnte, war die gesamte Zivilisationsbeleuchtung im Obermaintal nicht mehr
existent. »Leckt mich doch alle am Arsch!«, wiederholte er noch einmal leise,
bevor er zitternd auf die Knie sank. Sogleich gesellte sich sein Hund zu ihm
und leckte ihm aufmunternd übers Gesicht.
    »Ach, Murat, ich glaube, wir haben gerade ganz Oberfranken
stillgelegt«, seufzte Lohneis, während sich hinter ihm der befreite Main
hemmungslos in sein enges Bett ergoss.
    *
    Edwin Rast fühlte sich wie ein Feldherr, dem eine siegreiche
Schlacht bevorstand. Einerseits würde heute Nacht der letzte Rekord fallen,
andererseits würde er morgen den totalen Triumph, den Endsieg
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