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Der Colibri-Effekt

Der Colibri-Effekt

Titel: Der Colibri-Effekt
Autoren: Helmut Vorndran
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der
Überraschung einigermaßen erholt hatte, trat er näher. Oben auf der Kiste
befand sich ein Griff, in der Mitte des Deckels lag eine Zigarette mit einer
rot-gelben Banderole. Vorsichtig wickelte Lagerfeld die Zigarette in sein
Papiertaschentuch und legte sie auf den Tisch. Dann fasste er sich ein Herz und
öffnete mit zwei Fingern, die er ebenfalls durch ein Papiertaschentuch
schützte, vorsichtig den Deckel. Quietschend bewegten sich die angeschraubten
Messingscharniere, und die Kiste gab ihren Inhalt frei. Zuerst einmal eine
weitere Armee von Fliegen, der ein noch schlimmerer Gestank folgte. All das
hätte Bernd Lagerfeld Schmitt noch ertragen, aber die zwei toten Augen, die ihn
aus der Kiste heraus ansahen und zu dem halb verwesten Kopf gehörten, der vor
ihm lag, warfen ihn aus der Bahn. Dieser Hausbewohner hatte schon vor Längerem
das Zeitliche gesegnet. Als Krönung der Szenerie fing nun auch noch eine
Spieluhr, die sich ebenfalls irgendwo in der Holzkiste befinden musste, an, ein
Kinderlied zu spielen. Lagerfeld erkannte es sofort.
    »Fuchs,
du hast die Gans gestohlen, gib sie wieder her, gib sie wieder her …«
    Dann
hatte der junge Kommissar endgültig seine Belastungsgrenze überschritten und
rannte nach draußen.
    Baron von
Rotenhenne und Cesar Huppendorfer erlebten mit, wie Lagerfeld aus der Hütte
gesprintet kam und sich in die Wiese übergab.
    »Wahrscheinlich
hat ihm dieser Öko seinen Müslifraß angeboten!«, rief der Baron Huppendorfer
hinterher, der seinem Kollegen zu Hilfe eilte.
    Die Nacht
war kurz und vor allem kalt. Oder besser gesagt: Sie war kalt und deswegen
kurz. Zwar trug er ein dickes Flanellhemd und eine Stoffhose unter dem Overall
sowie eine gestrickte bunte Wollmütze auf dem Kopf, aber alles zusammen hatte
der schleichenden Kälte, die irgendwann in seine Glieder gekrochen war, keinen
Widerstand leisten können. Also hatte er in absoluter Dunkelheit seinen Weg
fortgesetzt. Es war zwar bitterkalt, aber dafür sternenklar. Im fahlen Licht
der Himmelskörper konnte er sich seinen Weg durch die Bäume hindurchbahnen, wo
die reflektierenden Schneereste Licht in das Dunkel des Waldes brachten. Die
Bewegung erwärmte langsam seine steifen Glieder.
    Die
Entscheidung, in welche Richtung er laufen würde, war von ihm willkürlich, aus
dem Bauch heraus getroffen worden. Kaum war er wieder aufgebrochen, begann es
auch schon in seinem Kopf zu arbeiten. Verzweifelt versuchte er alle noch so
kleinen Anhaltspunkte zu analysieren, die seinem Gedächtnis eventuell auf die
Sprünge helfen könnten. Die Worte auf seinem Arm – »Hau ab!« – waren
Deutsch, das wusste er zum Beispiel. Also war er Deutscher, Österreicher oder
Schweizer. Er war groß, sportlich, hatte längere braune, gewellte Haare. Seine
Garderobe war nicht sonderlich aufschlussreich, vielleicht könnte er sie ja
ausziehen und genauer untersuchen, wenn er sich in wärmeren Gefilden befand.
Was sich ihm nun aufdrängte, war ein immer stärker werdendes Durstgefühl. Er
musste unbedingt etwas trinken. Doch dieses Problem löste sich bereits nach
wenigen Minuten in Wohlgefallen auf. Ein leises Plätschern drang an sein Ohr,
dann entdeckte er ein paar Schritte weiter auch schon einen kleinen Bach. Er
ließ sich auf die Knie fallen und schöpfte sich gierig mit der hohlen Hand die
kalte, klare Flüssigkeit in den Mund. Nachdem er seinen Durst gestillt hatte,
lehnte er sich erleichtert an einen Baum und brach in ein gepresstes Lachen
aus. Doch die Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Wenige Meter neben ihm
brach ein großes Tier aus dem Gebüsch und stürmte an ihm vorbei einen kleinen
Abhang hinauf. Offensichtlich hatte er da jemanden empfindlich in seiner
Nachtruhe gestört. Das Tier war von der Größe eines kleinen Pferdes und trug
ein schaufelartiges Geweih auf dem Kopf. Wenige Sekunden später herrschte
wieder Stille, nur das Plätschern des kleinen Baches untermalte die von Sternen
erleuchtete Szenerie. Er versuchte zu verarbeiten, was eben passiert war. Für
einen kurzen Moment war das Tier klar und deutlich zu sehen gewesen. Er hatte
es sofort erkannt, und genau diese Tatsache stürzte ihn nun in innerliche
Turbulenzen. Er ging noch einmal seinen Wissensstand durch. Auf seiner Hand
befanden sich deutsche Worte, und er dachte in Deutsch. Alles schön und gut,
aber was da gerade mit einer Urgewalt an ihm vorbeigedonnert war, war ganz
eindeutig ein Elch gewesen. Ein großer, aus dem Schlaf geschreckter,
ausgewachsener,
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