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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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Shigeko. Sie nahm seine Hand, die so trocken und zerbrechlich war wie ein Herbstblatt, und umschloss sie mit beiden Händen. »Du fieberst noch.«
    Â»Nur ein wenig. Die Nacht ist heiß.«
    Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen.
    Â»Ich werde nicht sterben«, wiederholte er. »Weine nicht um mich. Ich werde nach Terayama zurückkehren und mich ganz dem Weg des Houou widmen. Ich kann nicht glauben, dass wir versagt haben. Wir müssen irgendeinen Fehler gemacht oder etwas übersehen haben.«
    Seine Stimme wurde immer leiser und sie merkte, wie er in eine andere Welt glitt. Er schloss die Augen.
    Â»Hiroshi«, sagte sie erschrocken.
    Er umfasste ihre Hand mit der seinen. Sie spürte den Druck seiner Finger. Sein Puls schlug schwach, aber regelmäßig. Ohne dass sie wusste, ob er es hörte, sagte sie: »Lord Saga hat geschrieben und noch einmal vorgeschlagen, dass ich ihn heirate.«
    Hiroshi lächelte leise. »Aber natürlich wirst du ihn heiraten.«
    Â»Ich habe mich noch nicht entschieden«, erwiderte sie. Sie saß die ganze Nacht da und hielt seine Hand, während er abwechselnd schlief oder wach lag. Ab und zu unterhielten sie sich über Pferde und ihre gemeinsame Kindheit in Hagi. Sie hatte das Gefühl, Abschied von ihm zu nehmen, und spürte, dass sie einander nie wieder so nahe sein würden. Sie waren wie die Sterne, die am Himmel dahinzogen und sich einander zu nähern schienen, um dann durch die unergründliche Bewegung desHimmels wieder voneinander getrennt zu werden. Von dieser Nacht an würden sie sich auf ihren jeweiligen Bahnen voneinander entfernen, doch die unsichtbare Anziehungskraft, die sie miteinander verband, würde niemals erlöschen.
    Wie als Antwort auf ihren unausgesprochenen Handel starb das Kirin. Ishida, völlig niedergeschmettert, kam am nächsten Nachmittag zu Shigeko, um es ihr zu berichten.
    Â»Es war auf dem Weg der Besserung«, sagte er. »Ich hatte schon geglaubt, es wäre über den Berg. Aber abends hat es sich dann hingelegt und konnte nicht wieder aufstehen. Das arme, arme Geschöpf. Ich wünschte, ich hätte es niemals mit hierher gebracht.«
    Â»Ich muss zu ihm«, sagte Shigeko und ging gemeinsam mit Ishida zu den Ställen an der Feuchtwiese, wo man ein Gehege errichtet hatte. Auch sie verspürte eine große Trauer über den Tod des schönen, sanften Tieres. Im Tod wirkte es riesig und ungelenk, die Augen mit den langen Wimpern waren stumpf und voller Staub. Als Shigeko das Kirin betrachtete, überkam sie plötzlich eine schlimme Vorahnung.
    Â»Das ist das Ende von allem«, sagte sie zu Ishida. »Das Kirin erscheint, wenn der Herrscher gerecht ist und Friede im Reich herrscht. Der Tod des Kirin kann nur bedeuten, dass all das Vergangenheit ist.«
    Â»Es war nur ein Tier«, erwiderte Ishida. »Ungewöhnlich und wundersam, aber in keiner Weise mythisch.«
    Trotzdem wurde Shigeko die Überzeugung nicht los, dass ihr Vater tot war.
    Sie berührte das weiche Fell, das noch etwas vom alten Glanz hatte, und erinnerte sich an Sagas Worte.
    Â»Er wird seinen Willen bekommen«, sagte sie laut. Sie gab Befehl, dem Tier das Fell abzuziehen und dieses zu gerben. Sie würde es zusammen mit ihrer Antwort an Lord Saga schicken.
    Shigeko ging in ihre Gemächer und bat um ihre Schreibsachen. Als die Diener zurückkehrten, war Minoru dabei. In den letzten Tagen hatte sie immer wieder das Gefühl gehabt, als wollte er unter vier Augen mit ihr reden, doch es hatte sich keine Gelegenheit ergeben. Nun kniete er vor ihr nieder und hielt ihr eine Schriftrolle hin.
    Â»Lady Maruyamas Vater hat mir befohlen, Ihnen dies hier zu übergeben«, sagte er leise. Als sie die Schriftrolle entgegengenommen hatte, verneigte er sich vor ihr bis zum Boden und war damit der erste Mensch, der sie als Herrscherin der Drei Länder ehrte.

KAPITEL 54

    Von Kubo Makoto an Lady Otori.
    Ich möchte Ihnen gern selbst über die letzten Tage im Leben Ihres Mannes berichten.
    Hier im Gebirge ist es fast schon Herbst. Die Nächte sind kühl. Vor zwei Abenden hörte ich, wie der Turmfalke auf dem Friedhof rief, aber gestern Abend war er fort. Er ist nach Süden geflogen. Die Blätter beginnen sich zu verfärben. Bald kommt der erste Frost und danach der Schnee.
    Takeo traf zu Beginn des achten Monats mit Miyoshi Gemba im Tempel ein. Ich war erleichtert, dass
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