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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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Takeo über Maya und den Tod des Babys herausgefunden hatte? Oder sollte die Wahrheit besser bei den Toten bleiben? Er griff wieder zum Pinsel und die frische Tusche ließ die Schriftzeichen dunkler wirken.
    Am Morgen seines Todes hielt sich Takeo mit Miki im Garten auf. Er hatte ein neues Bild begonnen – von Pferden. Gemba und ich hatten uns gerade zu den beiden gesellt. Es war irgendwann zu Beginn der Stunde des Pferdes im zweiten Viertel des achten Monats und es war sehr heiß. Überall zirpten die Zikaden und sie klangen noch lauter als sonst. Zwei Pfade führen zum Tempel hinauf: der Hauptpfad von der Herberge zum Tempeltor und der überwachsene, schmale Pfad, der dem Fluss folgt und direkt im Garten endet. Auf diesem Pfad kamen die Kikuta.
    Takeo hörte sie natürlich als Erster und er schien sofort zu wissen, um wen es sich handelte. Ich hatte Akio noch nie gesehen, wusste aber alles über ihn, und ich hatte auch seit Jahren Kenntnis von dem Jungen und der Prophezeiung. Es tut mir sehr leid, dass ich dieses Wissen hatte, Sie jedoch nicht. Hätte Ihr Mann Ihnen vor Jahren alles erzählt, dann wäre zweifellosalles ganz anders gekommen, doch er hat sich dagegen entschieden. Auf diese Weise schmieden wir unser eigenes Schicksal.
    Ich sah, wie zwei Männer in den Garten hasteten. Neben dem jüngeren sprang eine riesige schwarz-weiß-goldene Katze einher, die größte Katze, die ich je gesehen habe. Anfangs hielt ich sie für einen Löwen.
    Takeo sagte leise: »Es ist Akio. Bringt Miki weg.«
    Keiner von uns rührte sich vom Fleck. Nur Miki stand auf und stellte sich dicht neben ihren Vater.
    Der junge Mann hielt eine Waffe. Ich wusste, dass es sich um eine Feuerwaffe handelte, obwohl sie viel kleiner war als jene, die die Otori benutzen. Akio trug eine Pfanne mit glühender Holzkohle. Ich kann mich an den Geruch des Rauches erinnern und sehe noch vor mir, wie er senkrecht in der unbewegten Luft aufstieg.
    Takeo starrte den jüngeren Mann an. Ich begriff, dass es sein Sohn war – die beiden sahen einander zum ersten Mal. Hautfarbe und Haar der beiden ähnelten sich, aber sonst deutete nichts darauf hin, dass es sich um Vater und Sohn handelte.
    Takeo war seelenruhig, was den jungen Mann zu verwirren schien – er wurde Hisao genannt, aber ich denke, er wird seinen Namen ändern. Akio schrie ihm zu: »Tue es! Tue es!« Doch Hisao wirkte wie versteinert. Er legte der Katze langsam eine Hand auf den Kopf und sah auf, als spräche jemand zu ihm. Auf meinem Nacken sträubten sich die Haare. Ich konnte nichts sehen, aber Gemba flüsterte: »Ich spüre die Anwesenheit von Geistern der Verstorbenen.«
    Hisao sagte zu Takeo: »Meine Mutter behauptet, Sie seien mein Vater.«
    Â»Der bin ich«, sagte Takeo.
    Â»Er lügt!«, schrie Akio. »Ich bin dein Vater. Töte ihn. Töte ihn!«
    Â»Ich bitte deine Mutter um Vergebung«, sagte Takeo. »Und dich auch.«
    Hisao lachte ungläubig. »Ich habe Sie mein ganzes Leben gehasst!«
    Â»Er ist der Hund!«, kreischte Akio. »Er muss für den Tod von Kikuta Kotaro und so vielen anderen Angehörigen des Stammes büßen.«
    Hisao hob die Feuerwaffe. Takeo sagte laut und deutlich: »Fallt ihm nicht in den Arm. Verletzt ihn nicht.«
    Plötzlich war der Garten voller Vögel mit goldenem Gefieder. Das Licht war blendend hell. Hisao schrie: »Ich kann es nicht tun! Sie hindert mich daran.«
    Dann geschahen mehrere Dinge auf einmal. Gemba und ich haben versucht, die Geschehnisse zusammenzufügen, aber wir sahen nicht genau das Gleiche. Akio entriss Hisao die Feuerwaffe und stieß den Jungen beiseite. Die Katze sprang Akio an und schlug ihm die Krallen ins Gesicht. Miki schrie: »Maya!« Dann gab es einen Blitz und eine ohrenbetäubende Explosion. In der Luft lag der Geruch verbrannten Fleisches und Fells.
    Die Waffe hatte nicht funktioniert und war explodiert. Akio waren die Hände abgerissen worden und er verblutete innerhalb von Sekunden. Hisao wirkte wie vor den Kopf gestoßen. Er hatte Brandwunden im Gesicht, schien sonst aber unverletzt zu sein. Die Katze lag im Sterben. Miki lief zu ihr und rief den Namen ihrer Schwester. Etwas so Ehrfurchterregendes hatte ich noch nie erlebt: Miki schien sich in einSchwert zu verwandeln. Sie warf das Licht so hell zurück, dass wir geblendet waren. Sowohl Gemba als auch ich hatten das
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