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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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Sie sich dazu im Stande fühlen.«
    Â»Ich muss es sofort lesen«, sagte Kaede mit pochendem Herzen. »Bleiben Sie währenddessen bei mir?«
    Als sie zu Ende gelesen hatte, legte sie die Schriftrolle weg und schaute in den Garten.
    Â»Dort hat er gesessen?«
    Makoto nickte.
    Â»Und das ist der Wandschirm?« Kaede stand auf und ging dorthin. Die Spatzen sahen sie aus leuchtenden Augen an. Sie berührte die bemalte Oberfläche mit der Hand.
    Â»Ich kann ohne ihn nicht leben«, sagte sie unvermittelt. »Ich bedauere und bereue alles zutiefst. Ich habe ihn in die Arme seiner Mörder getrieben. Das werde ich mir niemals verzeihen.«
    Â»Niemand entkommt seinem Schicksal«, flüsterte Makoto. Er stand auf und trat vor sie. »Auch ich habe das Gefühl, meine Trauer niemals überwinden zu können, aber ich versuche mich mit dem Gedanken zu trösten, dass Takeo gestorben ist, wie er gelebt hat, furchtlos und voller Mitgefühl. Er hat akzeptiert, dass seine Zeit gekommen war, und er ist mit großer Gelassenheit gestorben. Seinem Wunsch entsprechend ist er neben Shigeru begraben worden. Und wie Shigeru wird er niemals vergessen werden. Außerdem hinterlässt er Kinder: zwei Töchter und einen Sohn.«
    Ich kann seinen Sohn noch nicht annehmen , dachte Kaede. Werde ich es je können? Ich empfinde nur Hass für ihn und Eifersucht auf seine Mutter. Takeo ist nun bei ihr. Werden sie in allen zukünftigen Leben beisammen sein, werde ich ihn jemals wiedersehen? Sind unsere Geister für immer getrennt?
    Â»Sein Sohn hat mir gesagt, dass alle Geister Frieden gefunden haben«, fuhr Makoto fort. »Der Geist seiner Mutter hat ihn sein ganzes Leben heimgesucht, aber nunist er frei von ihr. Wir glauben, dass er ein Schamane ist. Man hat sein Wesen verdorben, aber wenn er geheilt werden kann, wird er eine Quelle der Weisheit und des Segens sein.«
    Â»Zeigen Sie mir die Stelle, an der mein Mann gestorben ist?«, flüsterte Kaede.
    Makoto nickte und trat auf die Veranda. Kaede schlüpfte in ihre Sandalen. Das Licht schwand. Der Garten wirkte fast farblos, doch auf den Felsen neben der Stelle, an der Takeo gestorben war, befanden sich noch getrocknete rostrote Blutflecken. Kaede stellte sich vor, wie seine Hände das Messer umschlossen, wie die Klinge in seinen geliebten Körper eindrang, wie ihm das Blut entströmte.
    Sie sank zu Boden und schluchzte krampfhaft.
    Ich mache es wie er, dachte sie. Ich kann diesen Schmerz nicht ertragen.
    Sie tastete nach dem Messer, das sie immer unter ihrem Gewand trug. Wie oft hatte sie vorgehabt, sich das Leben zu nehmen? In Inuyama und in ihrem eigenen Zuhause in Shirakawa, und dann hatte sie Takeo versprochen, sich das Leben erst nach seinem Tod zu nehmen. Unter Qualen erinnerte sie sich daran, was sie ihm gesagt hatte. Sie hatte ihn aufgefordert, sich den Bauch aufzuschneiden, und genau das hatte er getan. Nun täte sie das Gleiche. Eine Welle der Freude ging durch sie hindurch. Ihr Blut und ihr Geist würden ihm folgen.
    Ich muss schnell sein , dachte sie. Makoto darf mich nicht daran hindern.
    Doch nicht Makoto sorgte dafür, dass sie das Messerfallen ließ. Sondern ein Mädchen, das aus der Halle nach ihr rief: »Mutter!«
    Miki rannte in den Garten, barfuß und mit offenem Haar. »Mutter! Du bist gekommen!«
    Kaede bemerkte schockiert, wie sehr Miki inzwischen Takeo ähnelte. Und dann erkannte sie sich selbst in ihrer Tochter – wie sie in diesem Alter gewesen war, kurz vor dem Beginn ihres Lebens als Frau. Damals war sie eine Geisel gewesen, allein und schutzlos. Sie bemerkte die Trauer ihrer Tochter und dachte: Ich darf ihr nicht noch mehr Schmerz bereiten . Sie erinnerte sich daran, dass Miki ihre Zwillingsschwester verloren hatte, und sie weinte wieder, diesmal um Maya, um ihr Kind. Ich muss für Miki und für Sunaomi und Chikara weiterleben. Und natürlich für Shigeko, ja selbst für Hisao oder wie auch immer er heißen wird. Für alle Kinder Takeos, für alle unsere Kinder.
    Sie hob das Messer und warf es fort. Dann breitete sie die Arme für ihre Tochter aus.
    Ein Schwarm von Spatzen landete ringsumher im Gras und auf den Felsen und erfüllte die Luft mit Gezwitscher. Dann – wie auf ein fernes Signal hin – flatterten sie wieder auf und flogen in den Wald.

DANKSAGUNG
    Danken möchte ich:
    Der AsiaLink Foundation für das Stipendium, das es
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