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Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers

Titel: Der Clan der Otori – Der Ruf des Reihers
Autoren: Lian Hearn
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er lebte, denn wir hatten von der Zerstörung Hagis und Zenkos Vormarsch auf Yamagata gehört. Für mich lag es auf der Hand, dass kein Angriff auf das Mittlere Land Erfolg hätte, solange Takeo lebte, und ich wusste, Zenko würde versuchen, ihn so rasch wie möglich töten zu lassen.
    Es war gegen Mittag. Er war mit Gemba zu Pferd aus Yamagata gekommen. Der Tag war sehr heiß. Sie kamen nicht in Hast, sondern gemächlich und wie Pilger. Sie waren natürlich müde, und Takeo fieberte ein wenig, aber sie waren nicht so verzweifelt und erschöpft wie manche Flüchtlinge. Er erzählte mir kurz, dass er Sie in der vorangegangenen Nacht aufgesucht hatte. Aber diese Angelegenheiten betreffen Mannund Frau, und Außenstehende müssen sich heraushalten. Ich kann nur sagen, dass ich zwar aufrichtig traurig, aber nicht überrascht bin. Leidenschaftliche Liebe vergeht nicht, sondern verwandelt sich in andere Leidenschaften, zum Beispiel in Hass, Eifersucht oder Enttäuschung. Zwischen Mann und Frau kann so etwas nur gefährliche Folgen haben. Ich hatte Takeo meine Ansichten dazu viele Male deutlich gemacht.
    Später begriff ich, dass das, was man Ihnen erzählt hatte, Teil einer ausgefeilten Intrige war. Ihr Ziel bestand darin, Takeo im Tempel zu isolieren, dessen Bewohner keine Waffen tragen und den Eid abgelegt haben, nicht zu töten.
    Und tatsächlich löste Takeo als Erstes Jato von seinem Gürtel.
    Â»Ich bin gekommen, um zu malen«, sagte er, als er mir das Schwert gab. »Du hast schon einmal auf diese Waffe Acht gegeben. Nun lasse ich sie hier, bis meine Tochter Shigeko kommt, um sie zu holen. Der Kaiser selbst hat sie ihr übergeben.«
    Und dann sagte er: »Ich werde nie mehr töten. Eigentlich gibt es in meinem Leben keinen Anlass mehr zur Freude, aber dieser Entschluss freut mich.«
    Wir gingen gemeinsam zu Shigerus Grab. Takeo verbrachte den Rest des Tages dort. Meist halten sich viele Pilger am Grab auf, doch wegen der Gerüchte über den Krieg war es verlassen. Später erzählte er mir, er mache sich Sorgen, die Leute könnten glauben, er habe sie im Stich gelassen, doch er könne einfach nicht gegen Sie kämpfen. Ich selbst machte den schlimmsten inneren Konflikt seit jenem Tag durch, als ich geschworen hatte, nie mehr zu töten. Ich ertrug Takeos gelassene Hinnahme seines eigenen Todes nicht. Alle meine menschlichenGefühle drängten mich, ihn zu überreden, sich zu verteidigen und – wie ich gestehen muss – nicht nur Zenko zu vernichten, sondern auch Sie. Mit diesen Gefühlen rang ich Tag und Nacht.
    Takeo selbst wirkte sehr ausgeglichen. Er war fast leichten Herzens, obwohl ich wusste, wie tief er litt. Er betrauerte den Tod seines kleinen Sohnes und natürlich den Bruch mit Ihnen, aber er hatte die Macht an Lady Shigeko übergeben. Er hatte kein Begehren mehr. Allmählich ergriff diese Mischung extremer Gefühle den ganzen Tempel. Alles, was wir taten, von den profanen Alltagspflichten bis zu den geheiligten Augenblicken des Gesanges und der Meditation, schien von einem Bewusstsein des Göttlichen berührt worden zu sein.
    Takeo widmete sich dem Malen. Er fertigte viele Studien und Skizzen von Vögeln an, und am Tag vor seinem Tod bemalte er die leere Holztafel auf unseren Wandschirmen. Ich hoffe, Sie werden es eines Tages sehen. Die Spatzen wirken so lebendig, dass sich sogar die Katzen im Tempel täuschen lassen und oft dabei beobachtet werden, wie sie sich anpirschen. Ich lebe jeden Tag in der stillen Erwartung, dass sie dem Gemälde entflogen sind.
    Auch die Anwesenheit seiner Tochter Miki tröstete ihn sehr. Haruka brachte sie aus Hagi.
    Â»Ich wusste nicht, wohin ich sonst hätte kommen sollen«, sagte Haruka zu mir. Wir hatten einander vor vielen Jahren gut kennengelernt, als Takeo nach dem Kampf mit Kotaro um sein Leben rang. Ich mag sie sehr. Sie ist findig und klug, und wir waren ihr zutiefst dankbar, dass sie uns Miki gebracht hatte.
    Miki hatte viel Schreckliches erlebt und es hatte ihr die Sprache verschlagen. Sie folgte ihrem Vater, als wäre sie sein Schatten. Takeo fragte sie nach ihrer Schwester, aber Miki wusste nicht, wo sie sich aufhielt. Sie konnte sich ihm nur durch Gesten verständlich machen.
    An dieser Stelle legte Makoto kurz den Pinsel weg, dehnte die Finger und betrachtete die schönen, ruhigen Gärten. Sollte er Lady Otori alles erzählen, was
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