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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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Jetzt hatte sie hier das Kommando. Auch wenn dies ein Verbrechen war, das große Aufmerksamkeit erregen würde, vermutlich nicht nur innerhalb der Landesgrenzen, musste sie bis auf weiteres ihrer Verantwortung nachkommen. Aber sie hatte vor, noch heute Hilfe bei der Kriminalpolizei in Stockholm anzufordern. Als junge Polizistin hatte sie davon geträumt, bei der Reichsmordkommission arbeiten zu können, die für ihre gut organisierten Mordermittlungen bekannt war. Jetzt wünschte sie sich, dass diese Abteilung ihr so schnell wie möglich zu Hilfe kam. Vivi Sundberg führte als Erstes ein Gespräch von ihrem Mobiltelefon. Die Nummer hatte sie gespeichert. Es dauerte, bis sich jemand meldete. »Sten Robertsson.«
     
    »Hier ist Vivi. Bist du sehr beschäftigt?«
     
    »Das bin ich als Staatsanwalt immer. Was gibt es?« 
    »Ich bin in einem Dorf, Hesjövallen heißt es. Weißt du, wo das liegt? Bei Sörforsa?« 
    »Ich habe eine Karte an der Wand. Was ist passiert?« 
    »Sieh erst nach, ob du den Ort findest.« 
    »Warte einen Moment.« Er legte den Hörer ab. Vivi Sundberg fragte sich, wie er reagieren würde. Keiner von uns hat je etwas Vergleichbares erlebt, dachte sie. Kein einziger Polizist im ganzen Land und wahrscheinlich auch in vielen anderen Ländern kaum einer. Wir denken immer, dass das, was wir vor uns haben, nicht mehr schlimmer werden kann. Aber die Grenzen verschieben sich ständig. Jetzt sind wir hier. Wo sind wir morgen? Oder in einem Jahr?
     
    Robertsson nahm den Hörer wieder auf. »Ich habe den Ort gefunden. Ist das nicht ein verlassenes Dorf?«
     
    »Nicht ganz. Aber es ist auf dem besten Wege, es zu werden. Allerdings nicht wegen Abwanderung.«
     
    »Was meinst du damit?«
     
    Vivi Sundberg erklärte so ausführlich wie möglich, was geschehen war. Robertsson hörte zu, ohne sie zu unterbrechen. Sie konnte ihn atmen hören. »Soll ich das glauben?« sagte Robertsson, nachdem sie geendet hatte.
     
    »Ja.«
     
    »Es klingt unfassbar.«
     
    »Es ist unfassbar. So unfassbar, dass du als Staatsanwalt nicht nur sofort die Leitung der Voruntersuchung übernehmen musst, sondern auch herkommen solltest. Du musst mit eigenen Augen sehen, was ich hier vor mir habe.« »Ich komme. Gibt es einen Tatverdächtigen?«
     
    »Nein.«
     
    Sten Robertsson hustete in den Hörer. Im Vertrauen hatte er Vivi einmal verraten, dass er an Bronchialkatarrh litt, da er Kettenraucher gewesen war. An seinem fünfzigsten Geburtstag hatte er aufgehört zu rauchen. Robertsson und sie waren nicht nur gleich alt, sie hatten auch am selben Tag Geburtstag, am 12. März.
     
    Das Gespräch war beendet. Doch Vivi Sundberg blieb stehen, zögerte, ging nicht hinaus. Sie musste noch ein Gespräch führen. Wenn sie es jetzt nicht tat, wusste sie nicht, wann sie Zeit dafür haben würde.
     
    Sie wählte die Nummer.
     
    »Elins Haarstudio.«
     
    »Ich bin es. Hast du Zeit?«
     
    »Nicht lange. Ich habe zwei Tanten unter der Trockenhaube. Was ist denn?«
     
    »Ich bin hier in einem Dorf, ungefähr zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt. Hier ist etwas Schreckliches passiert. Viele Menschen sind getötet worden. Es wird einen Riesenaufstand geben. Ich werde keine ruhige Minute haben.« 
    »Was ist denn passiert?«
     
    »Neunzehn Menschen sind ermordet worden. Wir können nur hoffen, dass es ein Verrückter war.« »Warum hoffst du das?« »Weil es vollkommen unbegreiflich wäre, wenn ein normaler Mensch so etwas getan hätte.«
     
    »Kannst du nicht mehr sagen? Wo bist du?«
     
    »Keine Zeit. Ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Rufst du das Reisebüro an und stornierst meine Reise nach Leros? Ich habe sie letzte Woche gebucht. Wenn ich jetzt noch storniere, verliere ich kein Geld.«
     
    »Ja, mache ich. Bist du da draußen in Gefahr?« 
    »Ich bin hier von Menschen umgeben. Kümmere du dich jetzt um deine Tanten. Bevor sie verdampfen.« 
    »Hast du vergessen, dass du morgen einen Termin bei mir hast?« 
    »Den kannst du auch streichen. Ich werde von dem, was ich hier tue, sowieso graue Haare bekommen.«
     
    Sie steckte das Handy in die Tasche und verließ das Haus. Jetzt konnte sie nicht länger warten. Auf der Straße standen die beiden Männer von der Spurensicherung mit der Gerichtsmedizinerin und warteten auf sie.
     
    »Ich werde nichts beschreiben«, sagte sie. »Ihr müsst es selbst sehen. Wir fangen mit dem Mann an, der hier draußen im Schnee liegt. Dann gehen wir von Haus zu Haus. Ihr müsst
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