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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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gezögert, als er das Schwert in der Hand hielt. Er hatte es sofort gekauft und einem Schmied gegeben, der den Griff ausgebessert und die Klinge geschliffen hatte, bis sie scharf wie eine Rasierklinge war. In einem der Häuser ging eine Tür auf. Hastig zog er sich tiefer zwischen die Bäume zurück. Ein Mann mit einem Hund kam auf die Treppe. Eine Lampe über der Haustür beleuchtete den Hof. Er legte die Hand an den Schwertgriff und kniff die Augen zusammen, um die Bewegungen des Hundes verfolgen zu können. Was würde passieren, wenn der Hund ihn witterte? Es würde seinen ganzen Plan durchkreuzen. Wenn er gezwungen wäre, den Hund zu töten, würde er nicht zögern. Aber was würde der Mann machen, der auf der Treppe stand und rauchte?
     
    Der Hund stand plötzlich still und witterte. Einen Mo ment lang glaubte Liu, der Hund hätte Witterung von ihm aufgenommen. Doch dann lief er wieder auf dem Hof herum. Der Mann rief nach dem Hund, der sofort ins Haus lief. Die Tür wurde geschlossen. Kurz danach erlosch auch die Lampe über der Haustür.
     
    Er wartete weiter. Gegen Mitternacht, als nur noch das Licht eines einzigen Fernsehers zu erkennen war, merkte er, dass es angefangen hatte zu schneien. Wie Federn fiel der Schnee auf seine ausgestreckte Hand. Wie Kirschblüten, dachte er. Aber der Schnee duftet nicht, er atmet nicht, wie Blumen atmen.
     
    Zwanzig Minuten später erlosch der Fernseher. Es schneite weiter. Er holte einen kleinen Feldstecher mit Nachtsichtgläsern aus der Brusttasche seines Anoraks. Langsam ließ er die Augen des Feldstechers über die Häuser des Dorfs wandern. Nirgendwo sah er noch anderes Licht als eine Außenbeleuchtung. Er steckte den Feldstecher zurück und atmete tief durch.
     
    Vor seinem Inneren erschien das Bild, das Ya Ru ihm so oft beschrieben hatte.
     
    Ein Schiff. An Deck, klein wie Ameisen, Menschen, eifrig mit Taschentüchern und Hüten winkend. Aber er sieht keine Gesichter.
     
    Keine Gesichter, nur winkende Arme und Hände. Er wartete noch eine Weile. Dann ging er langsam über die Straße. In der einen Hand hielt er eine kleine Taschenlampe, in der anderen sein Schwert.
     
    Er näherte sich dem ersten Haus des Dorfs, an der nach Westen führenden Straße. Ein letztes Mal blieb er stehen und horchte.
     
    Dann ging er hinein.

     
    Vivi, diese Erzählung findet sich in einem Tagebuch, das ein Mann namens Ya Ru geschrieben hat. Er hatte sie sich mündlich erzählen lassen von einem Mann, der zuerst eine Reise nach Nevada machte, wo er eine Anzahl von Menschen tötete, und danach weiterreiste nach Hesjövallen. Ich möchte, dass Sie sie lesen, damit Sie alles Übrige, was ich in diesem Brief schreibe, verstehen können.
     
    Keiner dieser Menschen lebt mehr. Aber die Wahrheit dessen, was in Hesjövallen geschah, war größer und ganz anders, als wir alle dachten. Ich bin nicht sicher, dass alles, was ich erzähle, zu beweisen ist. Vermutlich ist das nicht möglich. Wie ich auch nicht erklären kann, auf welche Weise das rote Band im Schnee hei Hesjövallen landete. Wir wissen, wer es dorthin brachte, aber das ist auch alles.
     
    Lars-Erik Valfridsson, der sich in der Untersuchungshaft erhängt hat, war nicht schuldig. Das sollten zumindest seine Angehörigen erfahren. Warum er die Schuld auf sich nahm, darüber können wir nur spekulieren.
     
    Ich weiß, dass dieser Brief Ihre Ermittlung durcheinanderbringt. Aber das, wonach wir alle streben, ist natürlich Klarheit. Ich hoffe, dass ich jetzt dazu beitragen konnte. Ich habe auch nicht alles, was mir heute bekannt ist, in diesem Brief vermitteln können. Aber an dem Tag, an dem wir aufhören, nach der Wahrheit zu suchen, die zwar nie ganz objektiv ist, sondern bestenfalls auf Sachlichkeit beruht, an dem Tag gerät unser ganzes Rechtssystem aus den Fugen. Ich bin jetzt wieder im Dienst. Ich bin in Helsingborg und warte natürlich darauf, dass Sie sich melden, denn es gibt viele und schwerwiegende Fragen.
     
    Beste Grüße Birgitta Roslin 7. August 2006

Epilog
     
    Birgitta Roslin machte an diesem Augusttag auf dem Nachhauseweg in ihrem üblichen Geschäft ihre Einkäufe. Als sie vor der Kasse in der Schlange stand, griff sie nach einer Abendzeitung und blätterte darin. Auf einer der Seiten las sie zerstreut von einem einsamen Wolf, der in einem Dorf nördlich von Gävle erschossen worden war.
     
    Weder sie noch sonst jemand wusste, dass der Wolf an einem Tag im Januar von Norwegen aus durch Vauldalen nach Schweden
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