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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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an diesen Abend zurückdachte, allein im Haus, das Zimmer erfüllt vom noch nicht verflogenen milden Duft von Hos Parfüm, wusste sie, dass sie auf vieles ganz allein hätte kommen können. Genauer gesagt: Sie hätte es begreifen müssen, hatte sich aber gesträubt, das, was sie eigentlich wusste, zu akzeptieren.
     
    Anderes, was Ho aus Ya Rus Aufzeichnungen und Tagebüchern und aus Zusammenhängen geholt hatte, von denen Birgitta Roslin keine Ahnung gehabt hatte, erklärte manchen Sachverhalt, auf den sie selbst nie hätte kommen können. Natürlich fragte sie sich auch, was Ho weggelassen hatte. Sie hätte sie fragen können, sah aber ein, dass sie keine Antworten bekommen würde. Es gab Spuren von Geheimnissen, die sie nie verstehen würde, Verschlüsse, die sie nie würde öffnen können. Dies betraf Geschichten von Menschen in der Vergangenheit, ein anderes Tagebuch, das wie ein Gegenstück zu dem Tagebuch erschien, das JA verfasst hatte, der Vorarbeiter beim amerikanischen Eisenbahnbau gewesen war.
     
    Immer wieder kam Ya Ru in seinem Tagebuch auf seine Empörung darüber zu sprechen, dass Hong sich weigerte zu verstehen, dass der Weg, den China eingeschlagen hatte, der einzig richtige war und dass Menschen wie er entscheidenden Einfluss bekommen mussten. Birgitta Roslin begann zu verstehen, dass Ya Ru eindeutig psychopathische Züge hatte, worüber er sich zwischen den Zeilen selbst im Klaren zu sein schien.
     
    Nirgendwo fand Birgitta Roslin einen versöhnlichen Zug an ihm. Einen Ausdruck des Selbstzweifels, der Gewissensnot, wenigstens was Hongs Schicksal betraf, die immerhin seine Schwester gewesen war. Sie fragte sich, ob Ho den Text redigiert hatte, so dass Ya Ru als ausschließlich brutaler Mann dastand, ohne mildernde Charakterzüge. Sie fragte sich sogar, ob der ganze Text ein Phantasiegebilde Hos war. Doch das konnte wohl nicht sein. San hatte einen Mord begangen. Er hatte auch, ganz wie in den isländischen Sagas, Blutrache verübt für den Tod seiner Mutter.
     
    Als Birgitta Roslin Hos Übersetzung zweimal durchgelesen hatte, war es fast Mitternacht. Es gab Unklarheiten in dem, was Ho geschrieben hatte, viele Einzelheiten, die noch keine Erklärung gefunden hatten. Das rote Band? Was hatte es bedeutet? Darauf hätte nur Liu antworten können, wenn er noch gelebt hätte. Es gab immer noch lose Enden, die vielleicht lose Enden bleiben würden, möglicherweise für immer.
     
    Was blieb schließlich? Was konnte oder musste sie tun mit der Erkenntnis, die sie jetzt hatte?
     
    Birgitta Roslin ahnte die Antwort, auch wenn sie sich noch nicht ganz darüber im Klaren war, wie sie vorgehen sollte. Sie würde einen Teil ihres Urlaubs dafür verwenden. Wenn Staffan fischte, was sie selbst langweilte. An frühen Vormittagen, wenn er seine historischen Romane oder die Biographien von Jazzmusikern las und sie ihre einsamen Spaziergänge machte. Da hatte sie die Zeit, den Brief zu formulieren, den sie an die Polizei in Hudiksvall schicken musste. Danach konnte sie den Karton mit den Erinnerungen an ihre Mutter zur Seite stellen. Für sie würde alles vorbei sein. Hesjövallen würde zu einer langsam verblassenden Erinnerung werden. Auch wenn sie natürlich nie ganz vergessen könnte, was geschehen war.
     
    Sie fuhren nach Bornholm, hatten wechselhaftes Wetter und fühlten sich wohl in dem Haus, das sie gemietet hatten. Die Kinder kamen und fuhren wieder, die Tage glitten in entspanntem Müßiggang dahin. Zu aller Überraschung tauchte plötzlich Anna auf, zurück von ihrer langen Asienreise, und erklärte ihnen ebenso überraschend, sie wolle im Herbst in Lund mit dem Studium der Politikwissenschaft beginnen. Immer wieder war Birgitta Roslin dicht daran, Staffan zu erzählen, was in Peking und später in London passiert war. Aber dann kam sie doch davon ab, es hatte keinen Sinn; er würde zwar verstehen, was sie erzählte, aber nie ganz akzeptieren, dass sie es erst jetzt tat. Er würde gekränkt sein, es als Mangel an Vertrauen und an Nähe auffassen. Das war es ihr nicht wert, und so schwieg sie weiter.
     
    Solange sie ihm nichts erzählte, sagte sie auch Karin Wiman nichts von ihrer Reise nach London und von dem, was dort vorgefallen war.
     
    Sie trug es allein mit sich herum, eine Narbe, die niemand sehen konnte.
     
    Am Montag, dem 7. August, traten Staffan und sie ihren Dienst wieder an. Am Vorabend hatten sie sich endlich zusammengesetzt und sich ausgesprochen. Es war, als hätten beide, ohne es
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