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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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hatte, dies sei der wichtigste Auftrag, den er jemals erhalten habe. Jetzt war es seine Aufgabe, das Ganze abzuschließen, all die empörenden Ereignisse, die vor mehr als hundertvierzig Jahren ihren Anfang genommen hatten.
     
    Liu hatte dort gestanden und an Ya Ru gedacht, der ihm den Auftrag gegeben, ihn ausgerüstet und ihn ermahnt hatte. Ya Ru hatte von all jenen gesprochen, die vor ihnen gewesen waren. Die unendliche Reise hatte schon viele Jahre gedauert, kreuz und quer über Meere und Kontinente, Reisen voller Furcht und Tod und unerträglicher Verfolgung, und jetzt: das notwendige Ende und die Rache.
     
    Die gereist waren, lebten schon lange nicht mehr. Einige lagen tot auf dem Meeresgrund, andere ruhten in namenlosen Gräbern. In all diesen Jahren war ein ununterbrochener Klagegesang aus den unbekannten Gräbern aufgestiegen. Jetzt war es seine Aufgabe, als der Ausgesandte, der er war, den schmerzerfüllten Gesang zum Verstummen zu bringen. Jetzt war er derjenige, der hier mit dem Auftrag stand, dafür zu sorgen, dass die Reise endlich ihr Ende fand.
     
    Liu befand sich an einem Waldrand mit Schnee unter den Stiefeln, umgeben von Kälte. Es war der 12. Januar 2006. Auf einem Thermometer hatte er am Vortag gesehen, dass die Temperatur neun Grad unter null betrug. Er stampfte mit den Füßen, um die Wärme zu halten. Es war noch früh am Abend. In mehreren der Häuser, die er vom Waldrand aus sehen konnte, waren Fenster erleuchtet, oder er sah den bläulichen Schein von Fernsehapparaten. Er strengte sein Gehör an, konnte aber keine Geräusche ausmachen. Nicht einmal Hunde bellten, hatte er gedacht. Liu hatte geglaubt, die Menschen in diesem Teil der Welt hielten Hunde, die über sie wachten. Liu hatte Spuren von Hunden gesehen, aber gemerkt, dass man sie im Haus hielt.
     
    Er hatte überlegt, ob ihm die Hunde in den Häusern Probleme bereiten würden. Dann hatte er den Gedanken verworfen. Niemand ahnte, was geschehen würde, kein Hund würde ihn aufhalten können.
     
    Er hatte seinen einen Handschuh ausgezogen und auf die Uhr gesehen. Viertel vor neun. Noch würde es dauern, bis die Lichter erloschen waren. Er hatte den Handschuh wieder übergestreift und an Ya Ru und all seine Erzählungen gedacht, von den Toten, die so weit gereist waren. Jedes Mit glied der Familie hatte ein Stück der Strecke zurückgelegt. Durch einen sonderbaren Zufall war er, der nicht einmal der Familie angehörte, jetzt derjenige, der alles zum Abschluss bringen sollte. Das erfüllte ihn mit einem großen Ernst. Ya Ru vertraute ihm wie einem Bruder.
     
    In der Ferne hörte man ein Auto. Aber es war nicht auf dem Weg hierher. Es war ein Wagen, der draußen auf der großen Landstraße vorüberfuhr. In diesem Land, dachte er, in den stillen Winternächten, wandern Geräusche weite Wege, genauso wie Geräusche über das Wasser wandern.
     
    Er bewegte langsam die Füße. Wie würde er reagieren, wenn alles vorüber war? Gab es trotz allem einen Bereich in seinem Bewusstsein, seinem Gewissen, den er noch nicht kannte? Er konnte es nicht wissen. Wichtig war, dass er bereit war. In Nevada war alles gutgegangen. Aber man konnte nie wissen, besonders wenn der Auftrag jetzt so viel größer war. Seine Gedanken wanderten. Er erinnerte sich plötzlich an seinen Vater, der ein niedriger Beamter der Partei gewesen und während der Kulturrevolution gejagt und misshandelt worden war. Sein Vater hatte erzählt, wie ihm und den anderen ›Kapitalistenlakaien‹ von den Rotgardisten die Gesichter weiß gemalt worden waren. Weiß, weil das Böse immer weiß war.
     
    Jetzt versuchte er, sich die Menschen in den schweigenden Häusern genauso vorzustellen. Alle mit weißen Gesichtern, wie die Dämonen des Bösen.
     
    Eins der Lichter erlosch, wenig später wurde es auch in einem anderen Fenster dunkel. Zwei der Häuser waren jetzt dunkel. Er wartete weiter. Die Toten hatten einhundertvierzig Jahre gewartet, er brauchte nur ein paar Stunden zu warten.
     
    Er zog den rechten Handschuh aus und fuhr mit den Fingern über das Schwert an seiner Seite. Der Stahl war kalt, die scharf geschliffene Klinge konnte ihn leicht in die Finger schneiden. Es war ein japanisches Schwert, das er bei einem Besuch in Shanghai erstanden hatte. Jemand hatte ihm von einem alten Sammler erzählt, der noch einige dieser begehrten Schwerter aus der Zeit der japanischen Besetzung in den 1930er Jahren besaß. Er hatte sich zu dem unansehnlichen Laden durchgefragt und nicht
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