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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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Sitzung im Reichskriminalamt bin.« »Das ist diesmal leider nicht zu vermeiden.«
     
    »Was ist passiert?«
     
    »Wir haben eine Anzahl Tote im Dorf Hesjövallen.« Dann berichtete sie ihm in aller Eile, was geschehen war. Tobias Ludwig war ganz still. Sie wartete. »Das klingt so fürchterlich, dass es mir schwerfällt zu glauben, was du sagst.« 
    »So geht es mir auch. Aber es ist wahr. Du musst kommen.« 
    »Du hast recht. Ich fahre los, so schnell ich kann.« Vivi Sundberg blickte auf ihre Armbanduhr. »Wir müssen eine Pressekonferenz halten«, sagte sie. »Wir setzen sie für sechs Uhr an. Bis dahin sage ich nur, dass ein Mord begangen worden ist. Das Ausmaß erwähne ich nicht. Komm, so schnell du kannst. Aber fahr vorsichtig.«
     
    »Ich muss sehen, dass ich einen Bereitschaftswagen bekomme.« 
    »Besser einen Hubschrauber. Es geht um neunzehn ermordete Menschen, Tobias.«
     
    Das Gespräch war zu Ende. Tom und Ninni hatten jedes Wort gehört, das sie gesagt hatte. Sie sah ihre ungläubige Fassungslosigkeit, die gleiche Fassungslosigkeit, die sie selbst empfand.
     
    Es war, als wüchse der Albtraum immer weiter. Es war nicht die Wirklichkeit, die immer näher rückte.
     
    Sie setzte sich auf einen Stuhl, nachdem sie eine schlafende Katze aufgescheucht hatte. »Alle im Dorf sind tot. Nur Sie und Julia sind am Leben. Sogar die Haustiere sind tot. Ich verstehe, dass es ein Schock für Sie ist. Uns geht es nicht anders. Aber ich muss Ihnen Fragen stellen. Versuchen Sie, so genau wie möglich zu antworten. Ich möchte auch, dass Sie versuchen, an Dinge zu denken, nach denen ich nicht frage. Alles, was Ihnen einfällt, kann wichtig sein. Verstehen Sie?« Sie bekam stummes und erschrockenes Nicken zur Antwort. Vivi Sundberg nahm sich vor, behutsam zu Werke zu gehen. Sie begann damit, vom Morgen zu sprechen. Wann waren sie wach geworden? Hatten sie Geräusche gehört? Und in der Nacht? War etwas geschehen? War etwas anders gewesen als sonst? Sie mussten in ihrer Erinnerung suchen. Alles konnte von Bedeutung sein.
     
    Sie antworteten abwechselnd, der eine ergänzte etwas, wenn der andere eine Pause machte. Vivi Sundberg sah, dass sie sich wirklich anstrengten, ihr zu helfen.
     
    Sie ging zurück, trat eine Art winterlichen Rückzug durch eine unbekannte Landschaft an. War am Abend etwas Besonderes gewesen? Nichts. Die Worte »Alles war wie immer« kehrten in fast jeder Antwort wieder, die sie ihr gaben. Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen, dass Erik Hudden eintrat. Was sollte er mit den Journalisten machen? Es waren mehr geworden, und bald würden sie sich in eine gereizte und ungeduldige Meute verwandeln.
     
    »Warte einen Moment«, sagte sie. »Ich komme gleich. Sag ihnen, dass wir um sechs in Hudiksvall eine Pressekonferenz halten.«
     
    »Schaffen wir das?«
     
    »Wir müssen.«
     
    Erik Hudden verschwand wieder. Vivi Sundberg setzte das Gespräch fort. Noch einen Schritt zurück, zum gestrigen Tag. Diesmal antwortete Ninni. »Alles war wie immer«, sagte sie. »Ich war ein bisschen erkältet, Tom hat den ganzen Tag Holz gehackt.«
     
    »Haben Sie mit Nachbarn gesprochen?«
     
    »Tom hat ein paar Worte mit Hilda gewechselt.« »Haben Sie sonst noch jemanden gesehen?«
     
    »Ja, schon. Es hat geschneit. Dann sind sie immer drau ßen und schaufeln Schnee. Es stimmt, ich habe mehrere von ihnen gesehen, ohne darüber nachzudenken.« 
    »Haben Sie einen Fremden gesehen? Jemand, der nicht hierhergehört. Oder vielleicht ein fremdes Auto?«
     
    »Nichts.«
     
    »Wie war es am Tag davor?«
     
    »Es war wohl ungefähr genauso. Hier passiert nicht viel.« 
    »Nichts Ungewöhnliches?«
     
    »Nichts.«
     
    Vivi Sundberg holte einen Notizblock und einen Stift heraus. »Jetzt kommt etwas Schweres«, sagte sie. »Ich muss Sie um die Namen aller Nachbarn bitten.«
     
    Sie riss ein Blatt vom Block ab und legte es auf den Tisch. »Zeichnen Sie das Dorf auf«, sagte sie. »Ihr Haus und die anderen Häuser. Dann numerieren wir sie. Ich brauche die Namen von allen, die in den Häusern gelebt haben.« Die Frau stand auf, holte ein größeres Blatt Papier und machte eine Skizze des Dorfes. Vivi Sundberg hatte den Eindruck, dass sie es gewohnt war zu zeichnen.
     
    »Wovon leben Sie?« fragte Vivi Sundberg. »Landwirtschaft?«
     
    Die Antwort der Frau überraschte sie. »Wir haben ein Aktienpaket. Es ist nicht besonders groß, aber wir gehen sehr vorsichtig damit um. Wenn die Kurse steigen, verkaufen
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