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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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nicht gesehen.« 
    »Und was war mit den anderen Leuten hier im Dorf?« 
    »Es war wohl alles wie sonst auch. Hier leben nur alte Leute. Sie sind im Haus, wenn es kalt ist. Im Frühjahr und im Sommer treffen wir uns öfter.« 
    »Gibt es hier keine Kinder?« 
    »Nein, keine.« Vivi Sundberg schwieg und dachte an den toten Jungen. 
    »Ist das wirklich wahr?« fragte die Frau auf dem Sofa. 
    Vivi Sundberg spürte, dass sie Angst hatte. »Ja«, antwortete sie. »Was ich sage, ist wahr. Es kann sein, dass alle hier im Dorf tot sind. Außer Ihnen.« 
    Erik Hudden stand am Fenster. »Nicht ganz«, sagte er langsam. 
    »Was meinst du?« 
    »Es sind nicht alle tot. Hier ist jemand auf der Straße.« Vivi Sundberg lief zum Fenster. Sie sah, was Erik Huddens Aufmerksamkeit erregt hatte. Auf der Straße stand eine Frau. Sie war alt und trug einen Bademantel, ihre Füße steckten in schwarzen Gummistiefeln. Sie hatte die Hände gefaltet wie zum Gebet.
     
    Vivi Sundberg hielt den Atem an. Die Frau rührte sich nicht. Tom Hansson trat ans Fenster und stellte sich neben Vivi Sundberg. »Das ist Julia«, sagte er. »Wir finden sie manchmal nur im Nachthemd. Hilda und Herman kümmern sich um sie, wenn der Pflegedienst nicht kommt.«
     
    »Wo wohnt sie?« fragte Vivi Sundberg.
     
    Er zeigte auf das vorletzte Haus. »Wir wohnen hier seit fast zwanzig Jahren«, fuhr er fort. »Eigentlich sollten noch mehr herziehen. Am Ende waren es doch nur wir beide. Damals lebte Julias Mann noch. Er hieß Rune und fuhr Forstmaschinen. Eines Tages platzte eine Schlagader. Er starb im Fahrerhäuschen. Danach wurde sie seltsam. Ein Mensch, der immer mit geballten Fäusten in den Taschen herumlief, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und dann wurde sie senil. Wir fanden, sie sollte hier sterben dürfen. Sie hat zwei Kinder, die einmal im Jahr herkommen und auf ihr kleines Erbe warten. Sie kümmern sich nicht um sie.«
     
    Vivi Sundberg ging mit Erik Hudden hinaus. Die Frau stand reglos auf der Straße. Sie blickte auf, als Vivi Sundberg sich vor sie stellte, sagte aber nichts. Sie protestierte auch nicht, als Erik Hudden Vivi half, sie zurück zu ihrem Haus zu führen. Das Haus war ordentlich und sauber. An einer Wand hingen gerahmte Fotos ihres verstorbenen Mannes und der beiden Kinder, denen sie egal war.
     
    Vivi Sundberg zog zum ersten Mal, seit sie nach Hesjövallen gekommen war, einen Notizblock hervor, während Erik Hudden ein Blatt mit Behördenstempeln las, das auf dem Küchentisch lag. »Julia Holmgren«, sagte er. »Sie ist siebenundachtzig.«
     
    »Sorge dafür, dass jemand den Pflegedienst anruft. Es ist mir egal, zu welchen Zeiten sie sie besuchen. Sie müssen sich sofort um sie kümmern.«
     
    Die alte Frau saß am Küchentisch und sah aus dem Fenster. Die Wolken hingen tief über der Landschaft.
     
    »Wollen wir versuchen, sie etwas zu fragen?«
     
    Vivi Sundberg schüttelte den Kopf. »Das nützt nichts. Was könnte sie uns erzählen?«
     
    Sie bedeutete Erik Hudden mit einem Nicken, sie allein zu lassen. Er verschwand nach draußen. Sie ging ins Wohnzimmer, stellte sich in die Mitte des Raums und schloss die Augen. Bald würde sie das Widerwärtige, was hier geschehen war, fest in die Hand nehmen müssen. Sie versuchte, einen Ansatzpunkt zu finden.
     
    Es war etwas mit der alten Frau, was eine vage Ahnung in Vivi Sundbergs Bewusstsein weckte. Aber sie konnte den Gedanken nicht greifen. Sie stand unbeweglich da, öffnete die Augen und versuchte nachzudenken. Was war an diesem Januarmorgen geschehen? Neunzehn ermordete Menschen in einem abgelegenen Dorf. Dazu eine Anzahl toter Haustiere. Alles ließ auf eine ungeheure Wut schließen. Konnte ein einzelner Täter dies alles wirklich begangen haben? Waren es mehrere Täter gewesen, die in der Nacht aufgetaucht und wieder verschwunden waren, nachdem sie ihr Schlachten beendet hatten? Es war zu früh, Vivi Sundberg hatte keine Antworten, es gab nur wenige Anhaltspunkte und all die Toten. Sie hatte ein überwinterndes Paar, das einst aus Stockholm geflohen war, und eine senile alte Frau, die im Nachthemd auf die Dorfstraße zu gehen pflegte. Es waren nicht alle Dorfbewohner tot. Drei Menschen waren am Leben geblieben. War es ein Zufall, oder hatte es etwas zu bedeuten? Sie blieb noch einige Minuten bewegungslos stehen. Durchs Fenster sah sie, dass die Spurensicherung aus Gävle gekommen war, und außerdem eine Frau, vermutlich die Gerichtsmedizinerin. Sie holte tief Luft.
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