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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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miteinander. Vivi Sundberg stieg aus dem ersten Wagen, der den Ort erreichte. Sie war eine kräftig gebaute Frau von Anfang fünfzig. Wer sie kannte, wusste, dass sie trotz ihres Gewichts nicht nur über Kraft, sondern auch über Ausdauer verfügte. Nur wenige Monate zuvor hatte sie zwei zwanzigjährige Einbrecher verfolgt und eingeholt. Sie hatten sie ausgelacht, als sie zu laufen begannen. Als sie die beiden nach ein paar hundert Metern gestellt und festgenommen hatte, lachten sie nicht mehr.
     
    Vivi Sundberg hatte rote Haare. Viermal im Jahr ging sie zu ihrer Tochter, die einen Frisiersalon hatte, und ließ die rote Farbe auffrischen.
     
    Sie war auf einem Hof in der Nähe von Harmänger geboren und hatte dort für ihre Eltern gesorgt und sie gepflegt, als sie alt wurden und schließlich starben. Danach hatte sie eine Fortbildung gemacht und sich nach ein paar Jahren bei der Polizeischule beworben, wo sie zu ihrer großen Verwunderung angenommen wurde. Niemand konnte eigentlich erklären, warum man sie trotz ihres schweren Körpers angenommen hatte. Aber es fragte auch niemand danach, und sie selbst sagte nichts. Wenn Kollegen, in der Regel männliche, davon sprachen abzunehmen, murmelte sie irritiert vor sich hin. Vivi Sundberg war vorsichtig mit Zucker, hatte aber immer Appetit. Sie war zweimal verheiratet gewesen. Das erste Mal mit einem Industriearbeiter aus Iggesund, mit dem sie ihre Tochter Elin hatte. Er war bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Einige Jahre später hatte sie wieder geheiratet, einen Klempner aus Hudiksvall. Ihre Ehe dauerte nicht einmal zwei Monate. Da kam er bei einem Unfall auf der winterglatten Straße zwischen Delsbo und Bjuräker ums Leben. Danach hatte sie nicht mehr geheiratet. Aber unter ihren Kollegen kursierte das Gerücht, dass sie auf einer der zahllosen Inseln der griechischen Inselwelt einen Freund hatte. Zweimal im Jahr machte sie dort Urlaub. Aber niemand wusste genau, was an den Gerüchten dran war.
     
    Vivi Sundberg war eine gute Polizistin. Sie war ausdauernd und beharrlich und besaß die Fähigkeit, auch minimale Spuren zu analysieren, die vielleicht die einzigen waren, an die sie sich bei einer Ermittlung halten konnten.
     
    Sie strich sich mit einer Hand durchs Haar und betrachtete Erik, der vor ihr stand. »Zeigst du mir, wo es ist?« Sie gingen zu dem Toten hinüber.
     
    Vivi Sundberg verzog das Gesicht und ging in die Hocke. »Ist der Arzt schon da?«
     
    »Sie ist unterwegs.«
     
    »Sie?«
     
    »Hugo hat eine Vertreterin. Er wird wegen eines Tumors operiert.«
     
    Vivi Sundberg verlor für einen Augenblick das Interesse an dem blutigen Körper, der im Schnee vor ihr lag. »Ist er krank?«
     
    »Er hat Krebs. Wusstest du das nicht?«
     
    »Nein. Und wo?«
     
    »Magenkrebs. Aber es sollen noch keine Metastasen da sein. Jetzt hat er eine Vertreterin aus Uppsala. Sie heißt Valentina Miir. Wenn ich es richtig ausspreche.«
     
    »Und sie ist unterwegs?«
     
    Erik Hudden rief zu Ytterström hinüber, der an einem der Autos stand und Kaffee trank. Er bestätigte, dass die Gerichtsmedizinerin bald einträfe.
     
    Vivi Sundberg begann den Körper ernsthaft zu untersuchen. Jedes Mal, wenn vor ihr ein Mensch lag, der getötet worden war, befiel sie das gleiche Gefühl von Sinnlosigkeit. Sie konnte den Toten nicht zum Leben erwecken, nur im besten Fall die Ursachen des Verbrechens klarlegen und einen Täter in eine Gefängniszelle oder hinter die verschlossenen Türen einer psychiatrischen Anstalt bringen. »Hier hat jemand wie ein Berserker gewütet«, sagte sie. »Mit einem großen Messer. Oder einem Bajonett. Vielleicht mit einem Schwert. Ich kann mindestens neun Hiebwunden unterscheiden, und fast alle waren wahrscheinlich tödlich. Aber das mit dem Bein verstehe ich nicht. Wissen wir, wer der Mann ist?« 
    »Noch nicht. Alle Häuser scheinen leer zu sein.« Vivi Sundberg stand auf und sah aufmerksam zum Dorf hin. Es war, als ob die Häuser ihre Blicke mit Zurückhaltung beantworteten.
     
    »Hast du angeklopft?«
     
    »Ich wollte abwarten. Der Täter kann ja noch hier sein.« 
    »Das hast du richtig gemacht.«
     
    Sie winkte Ytterström zu sich, der seinen Pappbecher in den Schnee warf. »Wir gehen rein«, sagte sie. »Hier muss es doch Menschen geben. Das ist doch kein verlassenes Dorf.« 
    »Niemand hat sich blicken lassen.«
     
    Vivi Sundberg betrachtete wieder die Häuser, die verschneiten Gärten, die Straße. Sie griff nach ihrer Pistole
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