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Der Chinese

Der Chinese

Titel: Der Chinese
Autoren: Henning Mankell
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fallenlassen? Es zwang ihn ja niemand dazu, Hesjövallen und seine Einwohner zu fotografieren. Er hatte schon genug Bilder von dem Schweden, das im Begriff war, zu entschwinden, von den Einödhöfen, von den entlegenen Dörfern, die manchmal von Deutschen oder Dänen gerettet wurden, die die Höfe zu Sommerhäusern umbauten, oder die einfach verfielen und von der Erde verschluckt wurden. Er beschloss, wieder abzufahren, und stieg in den Wagen. Aber seine Hand zögerte am Zündschlüssel. Wenn er schon so weit gefahren war, konnte er wenigstens ein paar Porträts von Dorfbewohnern machen. Trotz allem suchte er Gesichter. In seinen Jahren als Fotograf war Karsten Höglin mehr und mehr von alten Menschen gefesselt worden. Ein geheimer Auftrag, den er sich selbst gegeben hatte, lief darauf hinaus, ein Buch mit Porträts von Frauen zusammenzustellen, bevor er die Kameras endgültig weglegte. Seine Bilder würden von der Schönheit erzählen, die man nur in den Gesichtern von sehr alten Frauen finden konnte. Greisinnen, denen ihr Leben mit all seinen Mühen in die Haut eingeritzt war, wie Sedimentablagerungen in einer Felswand.
     
    Karsten Höglin suchte immer nach Gesichtern, besonders denen alter Menschen.
     
    Er stieg wieder aus, zog die Pelzmütze über die Ohren, griff nach einer Leica M8, die ihn schon seit zehn Jahren begleitete, und ging auf das nächstgelegene Haus zu. Es gab etwa zehn Wohnhäuser im Ort, die meisten waren rot, einige hatten ausgebaute Eingänge. Er sah nur einen einzigen Neubau, wenn er denn als Neubau bezeichnet werden konnte, denn es war ein Haus aus den 1950er Jahren. Als er zum Gartentor kam, blieb er stehen und hob die Kamera.
     
    Das Schild verriet, dass hier Familie Andren lebte. Er machte ein paar Aufnahmen, änderte Blende und Belichtungszeit und suchte unterschiedliche Perspektiven. Immer noch zu grau, dachte er. Vermutlich wirkt es einfach nur verschwommen. Aber man weiß nie. Fotograf zu sein heißt, zuweilen unerwartete Geheimnisse aufzudecken.
     
    Karsten Höglin arbeitete oft rein intuitiv. Nicht dass er darauf pfiff, die Belichtungszeit zu messen, wenn es nötig war. Aber manchmal war es ihm gelungen, überraschende Ergebnisse zu erzielen, weil er die Belichtungszeit nicht genau bestimmt hatte. Improvisation war ein Teil seiner Arbeit. Einmal hatte er in Oskarshamn ein Segelschiff unter Segeln auf Reede gesehen. Es war ein klarer Tag mit scharfer Sonne gewesen. Kurz bevor er das Bild machte, kam er auf die Idee, die Linse anzuhauchen. Als er das Bild entwickelte, segelte ein Geisterschiff aus dem Nebel. Er hatte damals mit dem Bild einen wichtigen Preis gewonnen.
     
    Er vergaß die beschlagene Linse nie.
     
    Das Tor war schwergängig. Er musste sich anstrengen, um es aufzuschieben. Im Neuschnee waren keine Fußspuren zu sehen. Noch immer kein Laut, dachte er, nicht einmal ein Hund hat mich entdeckt. Als wären alle plötzlich verschwunden. Dies ist kein Dorf, es ist ein Fliegender Holländer. Er stieg die Vortreppe hinauf und klopfte an die Haustür, wartete, klopfte noch einmal. Kein Hund, keine miauende Katze, nichts. Jetzt kamen ihm Bedenken. Etwas war eindeutig nicht in Ordnung. Er klopfte noch einmal, diesmal fest und lange. Dann drückte er die Klinke herunter. Die Tür war verschlossen. Alte Menschen sind ängstlich, dachte er. Sie schließen sich ein, weil sie fürchten, all das, wovon sie in den Zeitungen lesen, könnte ihnen zustoßen.
     
    Er schlug an die Tür, doch niemand reagierte. Er sagte sich, dass das Haus leer sein musste.
     
    Er ging durchs Gartentor hinaus zum Nachbarhaus. Es war inzwischen heller geworden. Das Haus war gelb. Der Fensterkitt war schlecht, es zog bestimmt im Haus. Bevor er klopfte, drückte er die Türklinke herunter. Auch diese Tür war verschlossen. Er hämmerte gegen die Tür, bevor überhaupt jemand hätte antworten können. Auch hier schien niemand zu Hause zu sein.
     
    Von neuem beschloss er, den Plan aufzugeben. Wenn er sich jetzt ins Auto setzte und losfuhr, wäre er am frühen Nachmittag zu Hause in Piteä. Seine Frau Magda würde sich freuen. Sie fand, dass er zu alt war für die Reiserei, obwohl er gerade einmal dreiundsechzig Jahre alt war. Aber er hatte undeutliche Symptome einer beginnenden Angina gehabt. Der Arzt hatte ihm geraten, auf seine Ernährung zu achten und sich so viel wie möglich zu bewegen.
     
    Doch er fuhr nicht nach Hause. Stattdessen ging er auf die Rückseite des Hauses und versuchte es an einer Tür,
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