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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
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unkomplizierten Unterschenkelbruch und eine alte Dame, die eine Platzwunde an der Stirn hat. Auf der Bahre liegt, ausgestreckt und etwas blaß, der Gastarbeiter Antonio Dellonga. Schi sieht auf Rosemaries Rücken, er lächelt und zupft eine durchnäßte pechschwarze Haarsträhne von Antonio Dellongas Stirn.
    Flink bewegt sich Rosemarie zwischen dem kleinen Operationssaal und den beiden Vorräumen, wo die Verletzten eines Verkehrsunfalles auf ihre Wundversorgung warten. Ihre Aufgabe besteht darin, sie zu überwachen und warm zu halten, ihnen Schmerzmittel zu geben und vor allem aufzupassen, daß niemand plötzlich einen Schock bekommt.
    »Ich viel Schmerz«, sagt Antonio Dellonga zu der strengen Ragazza in Schwesternuniform.
    Antonio hat zwei ungefährliche Messerstiche ins Gesäß gekriegt in der Gaststätte ›Zum goldenen Hirsch‹, die vorwiegend von Gastarbeitern frequentiert wird. Rosemarie, die sein Stöhnen hört, mißt den Blutdruck und gibt ihm eine Spritze in den Oberarm. »Es ist eine Plage mit euch, immer viel Schmerz«, sagt sie und bleibt unvermittelt stehen.
    Sie weiß, daß sie es tun wird, heute Abend.
    Um elf Uhr ist es soweit. Das Problem, denkt Rosemarie, sind die beiden hier, die Frau und der Gastarbeiter. Zwei Zeugen.
    Kurzentschlossen fährt sie die Bahre mit Antonio Dellonga in ein Zimmer gegenüber der Ambulanz, es ist ein schmaler, fensterloser Raum, wo die Putzfrauen ihr Zeug aufbewahren. Eine nackte Birne leuchtet grell. »Du hier warten«, sagt sie und schiebt die Bahre hinein. Ein Emailleeimer kracht auf den Zementboden.
    »Ich bald kommen«, sagt Rosemarie zu Antonio Dellonga, der dankbar lächelt. Dann rennt sie die Kellertreppe hinunter, an den Heizungsräumen vorbei, und vor der Kellertreppe zu Bertrams Privatstation, die sich im Erdgeschoß befindet, hält sie einen Augenblick und versucht, ihren Atem zu beruhigen.
    Im Flur, vor dem Zimmer der Gräfin, zieht sie ihre Schuhe aus, gebückt geht sie auf Zehenspitzen hinein.
    Sie bleibt stehen.
    Die Gardinen sind nicht zugezogen. Ein bedeckter, sternenloser Himmel vertieft die Dunkelheit. Sie sieht undeutlich die Umrisse der liegenden Frau. Sie schläft. Ihre Atemzüge sind tief und regelmäßig, sie schnarcht etwas. Die Schmuckkassette liegt auf dem altmodischen eisernen Nachtkasten, unverschlossen. Mit hastigen Bewegungen leert Rosemarie die Kassette, wahllos stopft sie alles in ihre Taschen, bald stoßen ihre Finger auf Papier, sie hat den Kassettenboden erreicht. Da merkt sie, daß die Kranke wach ist.
    Bevor sie diesen Gedanken richtig fassen kann, fragt eine tiefe, unerwartet kraftvolle Stimme: »Bist du es, Hannes?«
    »Nein«, flüstert Rosemarie, »ich bin's … Schwester Aida.«
    Sie hört, wie die Kranke nach dem Lichtschalter tastet, und weiß, daß sie verloren ist.

2
    Ein Familiendisput entsteht oft aus einer Nichtigkeit. »Ich weiß, du magst diese Menschen nicht«, sagt Malvina Bertram heftig zu ihrem Mann, »und schon bin ich da und kümmere mich um sie. Ich glaube, ich habe nie etwas anderes getan, als mich um Dinge zu kümmern, die dir lästig sind. Schließlich ist das deine Feier.«
    »Ich habe es über. Ich dachte immer, es wäre dein Fest. Aber Feiern sind nun mal da, um überstanden zu werden.«
    »Es ist verdammt hochnäsig von dir, Hannes«, sagt Malvina. Sie ist drauf und dran, auf die Barrikaden zu gehen. »Was glaubst du wohl, weshalb heute alle Freunde zu uns kommen? Als die Nachricht von deiner Berufung die Runde machte, liefen Hedda Nolden Tränen über das Gesicht …«
    »Es sind deine Freunde«, sagt er in einem kindlichen Trotz, »die Hubers genauso wie die Meier-Quillings, und Hedda Nolden hat zuviel Courths-Mahler gelesen. Was Hedda braucht, ist Nachsicht.« (Es ist Gotteslästerung, Hedda ist ihre beste Freundin.)
    »Du wirst es nicht verstehen, dafür bist du zu erhaben, aber ich brauche Hedda. Vielleicht ist sie wirklich so einfältig, wie du behauptest. Mir macht das nichts aus. Sie ist menschlicher als alle deine noch so gescheiten Freunde, und sie steht zu mir. Sie und ich – vielleicht ist es das, was uns so verbindet –, wir haben keine Kinder, um uns Sorgen zu machen, wie wir sie auf die Universität bringen …« Malvina Bertram (von ihren Freundinnen liebevoll-zärtlich Mule genannt) ist keine Märtyrerin. Oft kämpft sie weiter, nachdem sie gesiegt hat.
    »Ich dachte, Hannes«, sagt sie, »es würde dir Freude bereiten, wenn ich dir was Gutes tue und dieses Fest gebe. Mit allen
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