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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
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für die abendliche Temperaturmessung.
    Für kurze Zeit herrschte im Zimmer ungewohnte Stille, sie lagen alle acht da, jede mit einem Thermometer im After, und die alte Frau neben ihr, die einen schwachen Schließmuskel hatte, entleerte geräuschvoll ihren Darm ins Bett.
    Am Abend dieses unglücklichen Tages kam Dr. Fritsch vorbei und drückte nochmals auf Lisas Bauch, um festzustellen, ob der Tumor atemverschieblich war. Er bemühte sich nach Kräften – wobei Lisa tief atmen mußte, bis ihr schwindlig wurde –, einmal erschien er ihm atemverschieblich, dann wieder nicht. Den Gedanken, Ohlhaut zu Rate zu ziehen, verwarf er. Wenn Bertram so viel daran lag – er selbst hielt es eher für eine Spitzfindigkeit –, sollte er es gefälligst selbst herausfinden.
    »Mein Gott, noch so'n Tag«, sagte Schwester Leopoldine Stein laut vor sich hin, während sie der Hast der letzten Stunden zu entfliehen suchte, dem Hin und Her in den Krankenzimmern, dem Geklappere von Urinflaschen und Bettschüsseln, dem Erbrochenen auf dem Boden, das sie wegen der vorgerückten Zeit selber wegwischen mußte. Eine übliche Schweinerei der Verwaltung, die Stationsmädchen nur bis fünf Uhr beschäftigte, um Überstunden nicht bezahlen zu müssen. Den Boden zu wischen, welch eine Aufgabe für eine Schwester.
    Sie ließ den Blick im Raum umherwandern, nachdem sie sich in den ledernen Drehsessel von Bertrams Sekretärin niedergelassen hatte, und empfand ein ungewohntes Gefühl des Neides. Dieses Zimmer hier, das Vorzimmer von Professor Bertrams Büro, schmeichelte ihren Augen mit den dunklen Mahagonimöbeln im weichen Licht mehrerer Stehlampen nach dem harten Weiß der eisernen Krankenbetten und den nackten Birnen draußen. Es war eine geschmackvolle, eine teure Welt.
    In ihrem Mund hatte sie noch den Geschmack des schalen Biers, das sie eilig in der Stationsküche getrunken hatte. Eigentlich war ihr Tag zu Ende, jetzt vertrat sie Bertrams Sekretärin, machte Überstunden von sieben bis zehn, eine Zeit, wo der Klinikchef noch arbeitete. Neben der verdeckten elektrischen Schreibmaschine lag ein Zettel, der für sie bestimmt war: »Der Chef pflegt seinen Tee um acht Uhr zu trinken, ohne Zitrone, natürlich keinen Zucker. Um diese Zeit haßt er Telefonanrufe, stellen Sie nach neun kein Gespräch mehr durch. Bleiben Sie im Zimmer, er wird ungehalten, wenn er zweimal nach Ihnen läuten muß.« Diese Unverfrorenheit belustigte sie. Wieder eine, die ihr Leben lang in ihren Chef verknallt ist. »Bleiben Sie im Zimmer …« Diese Ziege. Und wenn man mal muß? So lange wird sich der Herr Professor schon gedulden müssen. Da merkte Leopoldine, wie die Doppeltüre aufging, auf der Schwelle seines Zimmers stand Professor Bertram. Sie strich ihren Kittel glatt, der über die Knie hochgerutscht war, und stand auf. Sollte sie sein Läuten überhört haben?
    Wie jeder vom Personal, fürchtete sie Bertram. Und weil er schwieg, fragte sie: »Möchten Sie etwas trinken, Herr Professor?« Sein Ausdruck war der eines Menschen, der sich nicht mehr erinnerte, was er wollte.
    »Einen Tee vielleicht.«
    In der Stationsküche, wo sie sich den Tee holte – sie haßte jegliche Art hausfraulicher Tätigkeit, dazu gehörte auch Teekochen –, beklagte sie sich bei der Nachtschwester: »Der Mann hält einen auf Trab.«
    Sie hatte inzwischen ein halbes Dutzend Telefongespräche abgewimmelt, eilige Unterschriften geholt und Bertrams Frau mitteilen müssen, der Herr Professor sei verhindert, er bedaure, die gnädige Frau möchte allein zu Noldens Empfang gehen. Eine Party bei Noldens, darüber stand jedesmal etwas in der Klatschspalte der Zeitung, die Leopoldine las. Karl Nolden war Stardirigent, und seine Frau Hedda galt als die eleganteste Erscheinung in der Stadt. Wie man zu einem so tollen Ereignis nicht hin wollte, verstand Leopoldine nicht. Der Professor drückte sich, das stand außer Zweifel. Von wegen unabkömmlich. Nur, dachte sie, wenn ein Mann so aussieht, vertut er seine Abende nicht mit nutzlosem Papierkram. Vielleicht stimmte es in der Ehe nicht, und er saß in seinem Arbeitszimmer noch lange, nachdem alle Ärzte mit Ausnahme der diensthabenden die Klinik verlassen hatten, um den Abend nicht mit ihr verbringen zu müssen.
    »In ihrer Haut möchte ich nicht stecken«, sagte sie zur Nachtschwester, als sie wegging.
    »In welcher?«
    »Na, in der Haut seiner Frau. Schönen Dank für den Tee.«
    Daraufhin bemerkte die Nachtschwester vernünftig: »Sie hat ja
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