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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
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Fritsch hatte dies mißachtet.
    Diesen Fehler hatte er bei seiner ersten selbständigen Visite begangen – die Station war seit kurzem ohne Stationsarzt –, und er galt als dessen designierter Nachfolger.
    Keine drei Stunden nach seiner Anordnung war die Frau tot. Sie starb an Herzkammerflimmern, durch das Mittel ausgelöst, das er verordnet hatte.
    Nachts fuhr Fritsch aus dem Schlaf hoch und sah immer das gleiche Bild vor sich, sah alle Einzelheiten seines Mißgeschicks von dem Augenblick an, als er mit Wiederbelebungsversuchen begonnen hatte, mit Herzmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung, bis zu dem schrecklichen Anblick, als die Patientin leblos im Bett lag. Von da ab fehlten ihm einige Momente, und sosehr er sich auch zu erinnern versuchte, was er unmittelbar danach getan hatte, es gelang ihm nicht. Seine Erinnerung setzte erst wieder ein, als er aus dem Zimmer ging. Zum Glück war die Patientin wegen des herrschenden Bettenmangels vorübergehend im Bad untergebracht, es gab keine Zeugen. Jetzt hoffte er, daß sein Fehler unentdeckt blieb, starben doch tagtäglich Menschen hier. Niemand prüfte, was sie eingenommen hatten.
    Die Frage, ob er seinen Fehler eingestehen sollte, verursachte in ihm jedesmal die Panik der ersten Stunde. In diesem Geständnis sah er seine Vernichtung. Auch wenn schließlich alles gutgehen sollte, woran er keinen Augenblick glaubte, war er für immer erledigt. Wer würde so einem Arzt schon vertrauen? Er sollte lieber versuchen, das Ganze schnell zu vergessen, zumal dieser Vorfall die übliche Wendung in der Klinik genommen hatte. Eine Schwester fand die Tote, als sie zur Temperaturmessung hineinging, und holte ihn, und er verhielt sich so, als ob dieser Tod zu erwarten gewesen wäre und ihn nicht überraschte. Und wieder verletzte er die Bestimmungen – er gab die Leiche frei.
    All dies fiel ihm nachts wieder ein, er verbohrte sich in düstere Vorahnungen und machte alle Stadien der Erschöpfung durch, ohne einschlafen zu können. Als er sich endlich von allem Bedauern und allen Überlegungen zu lösen begann, bekam er unruhige Beine. Er versuchte, sie still zu halten, während Elenas Stimme neben ihm schlaftrunken und anklagend murmelte: »Hör auf, Winfried.« Sie wollte, daß man Helen zu ihr sagte, sie bestand darauf, ernst genommen zu werden. Elena war neunzehn und seit sieben Monaten mit ihm verheiratet. Er glaubte zu wissen, daß schlanke Frauen wie sie eine besondere Körperwärme verbreiten, er spürte sie deutlich, obwohl sie von ihm abgerückt war. Zu den anderen Gefühlen, die er für sie empfand, kam der Stolz auf Elenas Körper, als ob er etwas dazu beigetragen hätte.
    Morgens erwachte er unlustig und konnte lange keine klaren Gedanken fassen. Mit einem Gefühl der Panik dachte er daran, daß er wieder in die Klinik müsse. Er versuchte es zu unterdrücken, sah über seine Kaffeetasse hinweg Elenas frisches, ausgeschlafenes Gesicht und ließ seine dick mit Butter und Honig bestrichene Frühstückssemmel unberührt.
    Elena und die Klinik waren für ihn seit kurzem zwei Welten, sichtbar voneinander getrennt. Wo gehörte er eigentlich hin? Wenn er einen Trennungsstrich ziehen müßte, wie würde es dann aussehen? Diesseits des Striches war er selbst, Elena und seine Liebe zu Elena, jenseits – die Pflicht und neuerdings die Furcht.
    Um diese Zeit erfand Winfried Fritsch, ohne auf die zehntausendjährige Erfahrung der Menschheit zurückgreifen zu müssen, das Leid gewissermaßen von neuem.

5
    Der Stationsarzt der Station 7a beendete seinen Bericht bei Klinikchef Professor Bertram. Als nächster war Fritsch an der Reihe.
    Bertram, in beigefarbenem Hemd mit offenem Kragen unter seinem weißen Kittel, stützte sich mit den Ellbogen auf seinen Platz an dem großen Tisch und wirkte insgesamt lässig und unkonzentriert. Der Schein trog. Es war nicht nur die Beweglichkeit seines intelligenten Blicks, der seine schnelle Auffassungsgabe verriet, nach Fritschs Erfahrung besaß Bertram die höchst unangenehme Gabe, Fragen zu stellen, die man vermeiden wollte.
    Mit dem Gefühl, daß er sich vor allem Bösen, das auf ihn lauerte, nicht hüten konnte, richtete sich Fritsch ruckartig auf, noch bevor sich sein Kollege gesetzt hatte, und spürte, wie sich die Blicke auf ihn richteten. Mit vor Aufregung heiserer Stimme begann er zu berichten. Diesen Augenblick hatte er gefürchtet und gleichzeitig ersehnt. Seit er in der Klinik tätig war – er befand sich im fünften Jahr seiner
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