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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
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zu hören bekam. So erfuhr sie, daß ihre Bettnachbarin siebenundzwanzig Jahre war und seit fünf Monaten im Krankenhaus lag. Ihr Name – sie hieß Fräulein Mörder – erschien Lisa seltsam, sie hatte Hemmungen, sie mit ›Fräulein Mörder‹ anzusprechen.
    Jetzt fügte sie auf Lisas fragenden Blick hinzu: »Nierenkranke werden oft am Schluß verwirrt, weil die kranke Niere die Giftstoffe nicht ausscheidet.« Ob es stimmte oder nicht, Lisa erschien es einleuchtend.
    »Dr. Fritsch ist ein schöner Mann, aber eine Niete«, erklärte Fräulein Mörder. »Von Medizin versteht er nichts.«
    »Sie meinen«, Lisa spürte neue Hoffnung in sich aufsteigen, »es wäre möglich, daß er sich geirrt hat?«
    »Jede Wette. Er ist für seine Fehldiagnosen berühmt …«
    Leider währte Lisas Hoffnung nicht lange. Bald kam Dr. Fritsch in Begleitung eines anderen Arztes wieder, den er anscheinend zu Hilfe gerufen hatte. Es war der Stationsarzt der Männerstation, Dr. Ohlhaut, und nach Fräulein Mörders Meinung, die in eine sonderbare Aufregung geriet, ein irrer Typ.
    Dr. Ohlhaut drückte wie sein Kollege Fritsch auf Lisas Bauch, nur war sein Griff sicherer und seine Hände warm. Fritschs Diagnose Bauchtumor bestätigte er. Von Lisas Beteuerungen, sie habe keine Beschwerden, unbeeindruckt, sagte er zu Fritsch: »Zweifelsohne Nieren- oder Dickdarmtumor. Wir fangen am besten schon morgen mit der Röntgenkontrastuntersuchung der Nieren an. Den Breieinlauf verschieben wir auf später, damit wir uns die Nierenuntersuchung nicht verbauen.«
    Auf Lisas schüchternen Versuch, um ihre Entlassung zu bitten, antwortete er kurz: »Kommt nicht in Frage.« Als er weggegangen war, hinterließ er eine Atmosphäre von Autorität und Ehrfurcht, die Fräulein Mörder zu der Äußerung veranlaßte: »Der Junge ist ein Frauenhasser.« Jetzt tat sie so, als ob ihre Voraussage über Lisas Erkrankung mit Dr. Ohlhauts Meinung völlig übereinstimme. Sie sprach von Lisas Nierentumor wie von etwas Feststehendem und brillierte mit ihren medizinischen Kenntnissen. Sie behauptete, daß der Mensch mit einer Niere genausogut leben könne, und beschrieb Lisa zwei verschiedene Operationsvorgänge, um die Niere zu entfernen. Die Art, wie sie sprach, ließ den Verdacht aufkommen, Lisas Operation sei für sie eine beschlossene Sache.
    Von sich erzählte sie bereitwillig, sie leide an einer seronegativen PCP, äußerst therapieresistent, wie sie stolz bemerkte, die den Ärzten Kopfzerbrechen bereite. Man hätte eine ganze Weile auf der Stelle getreten, dann wäre Professor Bertram nach zweimonatiger Abwesenheit zurückgekehrt und habe ihr Cortison gegeben; seitdem ginge es ihr besser. Toll, wie er das gemacht habe, und als Mann wäre er das Nonplusultra.
    Von alldem verstand Lisa nur, daß ihre Bettnachbarin an einer Art Rheuma litt. Wieder fielen ihr die verdickten Finger auf.

4
    Dr. Fritsch war ein Pechvogel. Hinzu kam, daß er zu jener Kategorie sensibler Menschen gehörte, die, ständig von einem Problem geplagt, chronisch unglücklich waren. Seit er das Zimmer 310 der internen Frauenstation verlassen hatte, vermied er, weiter an Lisa Schönhage zu denken, obwohl er die Wichtigkeit dieses Gedankens und die Rolle dieser Frau in seinem Leben schon vorausahnte. Es war ein Gedanke für den Augenblick vorm Einschlafen, wo er im Grau des sorgenvollen, angsterfüllten Alltags nach einem Lichtblick suchte, der ihn aufrichtete und ihm die Bestätigung seiner Fähigkeiten gab.
    Dr. Fritsch befand sich in einem gleichermaßen menschlichen wie ärztlichen Konflikt. Er hatte, wie er glaubte, den Tod einer Patientin verschuldet. Von seinem verhängnisvollen Fehler wußte – wie lange noch? – niemand.
    Zunächst hatte die Sache so einfach ausgesehen. Die Patientin war fast achtzig, eine dieser Personen, auf die die immer wieder aufflackernde Diskussion, ab wann die Verlängerung des Lebens nicht mehr human sei, zutreffen könnte, aber nicht zutraf. Sie litt an einer unregelmäßigen Herzschlagfolge, hatte dabei keine Beschwerden, war rüstig, rege und immer zu einem Späßchen aufgelegt. Trotz der Rhythmusstörungen bewältigte sie die Aufgaben ihres Alltags mühelos, bei ihr bestand kein zwingender Grund für einen Wiederrhythmisierungsversuch, außer ein akademisches Interesse und Fritschs Ehrgeiz, sich hervorzutun.
    Nach Bertrams Anordnung bedurfte dieser Versuch wegen der hohen Komplikationsrate bei älteren Menschen seiner Zustimmung oder der eines Oberarztes.
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