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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
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eine Infusionsflasche an, während Schwester Leopoldine Stein vergeblich nach Heftpflaster suchte. Sie fand schließlich eine Leukoplastrolle, die vergessen auf dem Heizungssims lag. Leopoldine Stein schnitt vier zweieinhalb Zentimeter lange Streifen ab, mit ihnen fixierte die Internistin den Katheter auf der Haut. Die ganze Angelegenheit nahm kaum einige Minuten in Anspruch. In Antonios Adern lief die lebensrettende Flüssigkeit, bald bekam sein Gesicht etwas Farbe, ein Zeichen, daß der Blutdruck sich besserte. Später überzeugte sich die Ärztin von der richtigen Lage des Katheters, sie zog ihn etwas zurück, um zu prüfen, ob das Heftpflaster fest hielt. Dann ging sie schlafen.
    In der Nacht löste sich der Katheter von den Klebestreifen – das Leukoplast hatte durch die Wärmeeinwirkung auf dem Heizungssims seine Klebefestigkeit verloren.
    Einmal freigeworden, rutschte der Katheter in die Vene, vom Blutstrom hineingezogen; die Katheterspitze gelangte durch die obere Hohlvene in den Vorhof des Herzens und von dort in die Herzkammer. Bald schlug das Herz der Katheterspitze entgegen, bei jedem Herzschlag mit voller Kraft. Langsam begann die Herzhaut an dieser Stelle ihren Glanz zu verlieren, sie wurde rauh, dann bohrte sich die Katheterspitze durch sie hindurch, jetzt schlug ihr der ungeschützte Herzmuskel entgegen, hundertdreißigmal in der Minute. Wann die Katheterspitze das Herz durchbohrte, war nur noch eine Frage der Zeit.

6
    Der sternenlose Himmel im Osten wird langsam hell. Die Nacht geht zur Neige.
    Im Zimmer 17 der internen Privatstation ist Gräfin Kerckhoff nach einem kurzen, unzusammenhängenden Traum aufgewacht. Sie spürt den galligen Geschmack in ihrem Mund und denkt mehr aus Gewohnheit: das Alter. In Wirklichkeit verweilt sie noch bei ihrem Traum. Die junge Frau darin war Karen und auch wieder nicht, sie hatte das Vogelgesicht der kleinen Schwester, die sie in der Nacht aufgeweckt hatte, Schwester van Dahmen.
    Jetzt fällt der Gräfin ein, daß Hannes Bertram noch nicht gekommen ist, obwohl sie zweimal nach ihm verlangt hatte. Sie spürt den Ärger in sich aufsteigen und tastet ungeduldig nach dem Lichtschalter, stößt dabei eine Tasse kalten Tees um, die auf dem Linoleumboden laut zerbricht. Sie schaltet das Licht ein und richtet sich etwas auf, um die Nachtklingel zu erreichen. Sie betätigt den Knopf, und als sie die Hand zurückziehen will, merkt sie, daß der Arm ihr nicht mehr gehorcht. Wie ein Fremdkörper fällt er herunter, schlägt gegen die Bettkante. Dabei spürt sie merkwürdigerweise keinen Schmerz. Gleichzeitig wird ihr die ganze linke Körperseite fremd, und sie denkt verwirrt: ›Ich hab' einen Schlaganfall erlitten.‹
    Als die Nachtschwester, durch das Läuten alarmiert, hereinkommt, ist Gräfin Kerckhoff tief bewußtlos, sie röchelt bereits.
    Aus einer der vier Doppelgaragen seines Stadthauses holt Professor Johannes Bertram einen silbergrauen Zweisitzer und fährt mit aufheulendem Motor in die Klinik.
    Den Wagen, ein überlautes Sportauto, hat er vor zwei Jahren seiner Frau Malvina zum siebenunddreißigsten Geburtstag geschenkt. Nach dem vielen Alkohol wirkt Bertrams Gesicht blaß, doch fährt er konzentriert, ohne sich allzusehr um die Geschwindigkeit zu kümmern.
    Über der Stadt liegt dünner Nebeldunst. Als Bertram in das Universitätsgelände einbiegt, schaltet er behutsam zurück, bevor er vor der internen Klinik zum Stehen kommt. Zerstreut denkt er: arme Elisabeth.
    In der chirurgischen Unfallambulanz zündet sich zu dieser Stunde der Inder Schi eine Zigarette an, eine Frechheit, die er sich zum erstenmal herausnimmt. Schwester Rosemarie Schwarz merkt es nicht, sie ist viel zu sehr mit sich beschäftigt. Sie nimmt ihre Umgebung nur undeutlich wahr. Den gestohlenen Schmuck hat sie eilig in eine sterile Operationskompresse gewickelt und in einem Sack mit Gipspulver versteckt. Durch die halbgeöffnete Tür vernimmt Rosemarie die Stimme des diensthabenden Chirurgen, der mit seiner Verlobten, der Nachtschwester auf der internen Privatstation, endlose Telefonate führt. Sie hört, wie er überrascht fragt: »Bertram? Um diese Zeit?«
    Aus, denkt Rosemarie, der Diebstahl ist entdeckt, man hat Bertram geholt und sicher auch die Polizei. Gleich werden sie nach einer Schwester van Dahmen suchen, die in Karl-Marx-Stadt geboren ist. Aus der Traum.
    »Wodurch gestorben? Schlaganfall?« fährt die Chirurgenstimme fort. »Wer ist bitte die Gräfin? Die Mutter der schönen Karen?
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