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Der Chefarzt

Titel: Der Chefarzt
Autoren: Argirov Valentin
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Sie nach mir schauen? Sie sind neu hier.«
    »Ja«, sagt Schwester Rosemarie. Sie zittert. »Ich bin neu hier.« Ihre Augen streifen das Gesicht der Gräfin und bleiben an der offenen Schmuckkassette hängen. Vom Bett aus kann die Gräfin die Kassette nicht sehen, nur die Platte des altmodischen Nachtkastens.
    »Hab' Sie noch nie gesehen«, sagt die Gräfin. »Wie heißen Sie?«
    »Van Dahmen.«
    »Welche van Dahmen? Die holländischen? Oder die Belgier?« Die Gräfin zeigt Interesse.
    »Wir sind entfernt verwandt. Meine Eltern kommen aus Karl-Marx-Stadt«, stottert Rosemarie. Es wird ihr bewußt, daß sie sich damit verraten hat. Bei der Suche nach der Diebin braucht man nur noch nach einer Schwester zu fahnden, die in Karl-Marx-Stadt geboren ist. Rosemarie sieht das verdutzte Gesicht der Gräfin und beeilt sich zu sagen: »Das ist in der DDR. Früher hieß es Chemnitz.« Die Gräfin nickt nur. Ihr Interesse ist verflogen. »Geben Sie mir Ihre Hand, Schwester van Dahmen.« Sie betastet Rosemaries Hand vorsichtig und sagt überrascht: »Sie haben eine sehr starke Hand für ihre zierliche Figur. Aber Sie zittern ja.«
    »Äh … es ist weiter nichts. Ich bin etwas nervös.« Rosemarie spürt, wie sie rot wird.
    Mit der Sprunghaftigkeit alter Menschen, deren Konzentration nachläßt, sagt die Gräfin: »Meine Tochter Karen und Hannes Bertram standen kurz vor ihrer Hochzeit, als sie starb. Wußten Sie das? Sie starb an Brustkrebs. Damals war der Hannes noch keine Berühmtheit, ein sauberer Junge mit allerhand verrückten Ideen. Seine Nächte verbrachte er in einem Kellerloch in der Universität und sprach voller Stolz von seinem Labor. Damals gab's noch Idealisten unter den Jungen. Der Hannes verdiente wenig. Er machte sich nichts aus Geld. Ich fand es großartig, weil er und Karen auf meine Hilfe angewiesen waren. Sie kamen zu mir, als sie heiraten wollten. Wußten Sie das, Schwester van Dahmen?«
    »Ich hab' davon gehört.«
    »Was denn«, sagt die Gräfin gereizt, »Herrgott, es war Liebe. Manchmal denke ich, es war eine Vorsehung, daß sie nicht heirateten. Soviel Gefühl endet nie gut. Meine Karen starb, als sie glücklich war. Wissen Sie, was das ist? Glücklich sein ohne Vorbehalt? Rücken Sie mein Kissen zurecht, nein, andersherum. Stellen Sie sich nicht so dumm an, meine Liebe. Sie sollen das obere Ende weiter raufziehen.« Sie verhält sich jetzt wie eine eigenwillige alte Dame, die keinen Widerspruch duldet.
    »Warum ist der Hannes noch nicht da? Die Nachtschwester soll noch mal bei ihm anrufen und ausrichten, ich warte auf ihn.«
    »Ich werde gleich nachfragen«, sagt Rosemarie eifrig.
    Die Gräfin beruhigt sich schnell. »Lassen Sie mich allein. Ich muß jetzt nachdenken.« Sie fügt hinzu: »Ich danke Ihnen. Schwester van Dahmen. Ich finde es sehr rücksichtsvoll von Ihnen, daß Sie Ihre Schuhe ausgezogen haben. Der Schlaf einer alten Frau ist leicht, das werden Sie noch erfahren. So, und jetzt gehen Sie! Sie dürfen mich morgen besuchen.«

5
    Im Schock wird die Haut blaß, die Atmung flach und beschleunigt, es schalten sich allerlei reflektorische Mechanismen ein. Das Herz rast, der Puls ist kaum spürbar, es kommt zu einem lebensbedrohenden Blutdruckabfall. Der Kranke schwitzt kalt, er übergibt sich und wird von einem Schwächegefühl und zunehmender Teilnahmslosigkeit übermannt.
    Schwester Rosemarie Schwarz kam noch zur rechten Zeit, um den Gastarbeiter Antonio Dellonga aus der Rumpelkammer zu befreien. Ihre kurze Abwesenheit war unentdeckt geblieben. Sie fuhr Dellonga in die Unfallambulanz zurück, wo endlich seine Wunden genäht wurden, dann fuhr man ihn auf die Station. Auf dem Weg dorthin bekam Antonio Dellonga einen Schock. Weil die chirurgische Intensivstation belegt war, wurde er auf die interne Intensivstation umdirigiert.
    Auf der internen Intensivstation verständigte die Nachtwache, Schwester Leopoldine Stein, die diensthabende Internistin, die gleich darauf erschien. Und da Antonios Venen durch den Blutdruckabfall nicht mehr auffindbar waren, entschloß sie sich zu einer Punktion der Schlüsselbeinvene.
    Es war eine richtige Entscheidung. Die Internistin – eine derbe rotblonde junge Frau mit großen Händen – betastete mit Zeige- und Mittelfinger Antonios Schlüsselbeinvene und führte mit einer kurzen, gekonnten Bewegung die Punktionskanüle ein. Durch die Kanüle schob sie den Venenkatheter langsam vor bis zur angebrachten Markierung, dann schloß sie das freie Katheterende an
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