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Der Brennende Salamander

Der Brennende Salamander

Titel: Der Brennende Salamander
Autoren: Ingeborg Bayer
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unsere kindliche Art und Weise bezahlen, damit er uns sein Wissen preisgibt.
    Die Brüste sind nackt, was heißt, daß jeweils eine von ihrer Hülle befreit wird. Die Frauen nehmen sie in die Hand, pressen sie sanft, jedoch nicht so heftig wie das Euter einer Kuh, die gemolken wird. Die Brüste sind verschlossen, eine Art Stöpsel verhindert, daß sie sich ungewollt entleeren. Aber während die Frauen auf der Bank sitzen und auf unsere Köpfe herabschauen, öffnen sich die Brüste, und es fließt ein weißer warmer Strom in unsere Münder, die sich gierig um die Stöpsel schließen. Der Strom, der sich in uns ergießt, heißt Milch.
    Die Frauen reden nicht, während sie auf dieser Bank sitzen. Sie lassen die Milch in uns hineinfließen, als seien sie stumme Wesen von einem anderen Stern, die herabgestiegen sind, um sich unser anzunehmen.
    Das heißt, daß wir eigentlich an den falschen Brüsten saugen – die Brüste sind nicht die unserer Mütter. Es sind fremde Brüste, die uns nähren. Es sind auch fremde Stimmen, die mit uns reden, wenn wir, gesättigt und müde irgendwann vom Schlaf übermannt an diesen Brüsten hängend, einschlafen. Manchmal flüstern sie uns Namen ins Ohr. Aber es sind nicht die Namen, die uns unsere Mütter gegeben haben, falls sie es überhaupt getan haben. Es sind die Namen von irgendwelchen Heiligen, die wir bei unserer Ankunft im Ospedale degli innocenti, in dem zu leben wir gezwungen sind, bekommen haben: Agata, Antonio, Simone, Tomaso, Rinaldo, Lorenzo.
    Mir hat man den Namen Ambrogio gegeben, weil ich am Tag des heiligen Ambrosius diese Erde ›betreten‹ habe. Das heißt, es ist nicht ganz sicher, ob es wirklich an diesem Tag war, es mag auch in der Nacht zuvor gewesen sein. Sicher ist nur, daß ich am Ambrosius-Tag des Jahres 1482 in die pila gelegt worden bin, jene Marmorschale, wie sie in Kirchen ansonsten mit geweihtem Wasser für die Taufe bereitsteht. Und sicher ist auch, daß ich aus diesem Anlaß eine Nummer bekommen habe: die Nummer 329.
    Meine Geschichte beginnt also mit dieser pila , die im Ospedale degli innocenti an der Piazza della SS. Annunziata in Florenz steht. Mein zweiter Name ist daher Innocente – nach den Unschuldigen, wie man uns nennt. Man hätte uns selbstverständlich auch gettatelli nennen können, die Weggeworfenen, aber sicher hätte das manchen Leuten nicht gefallen. Wir können also froh sein, daß unser Leben nicht in irgendeiner Latrine geendet hat oder unser erdrosselter Säuglingskörper vom Arno fortgeschwemmt wurde, wie üblicherweise die Ungeliebten zu enden pflegen. Froh und dankbar – zumindest sagt man uns das sofort, wenn wir einmal wegen irgendeiner Sache aufbegehren.
    Meine Erinnerungen, meine ricordanze , die ich hier niederschreibe, sind aber nicht nur meine Geschichte, sie sind zugleich die Geschichte der Brigida Lucrezia Maria Orelli, die allerdings bei ihrer Geburt nicht in eine pila , sondern in eine bequeme Wiege gelegt wurde und, da sie in einem Palazzo zur Welt kam, auch gleich drei Namen bekommen hat. Ich vermute auch, daß man Brigida bei ihrer Geburt wohl kaum in ein altes Hemd gewickelt, sondern in seidene Gewänder gehüllt hat. Als wir beide später einmal darüber sprachen, lachte sie und sagte, was das denn schon für eine Bedeutung habe – ob pila oder Wiege mache für das spätere Leben wenig aus. Aber ich greife vor, es dauerte eine ganze Weile, bis sich unsere Wege berührten. Ich sage berührten, weil es zunächst nur eine sehr einseitige Begegnung war, die von Brigida in der ersten Zeit nicht einmal wahrgenommen wurde. Und wenn ich hinzufüge, daß unser allererster Berührungspunkt der war, daß wir an den gleichen Brüsten genährt wurden, so muß ich natürlich erklären, daß dies nicht zur gleichen Zeit war – Brigida ist einige Jahre jünger als ich, aber wir hatten die gleiche Amme.
    Die gleiche Amme hatten wir deswegen, weil wir beide aufs Land, in die Toskana, gegeben worden waren. Hier überlappen sich unsere Geschichten für einen winzigen Augenblick. Danach jedoch gehen sie wie eineSchere weit auseinander: Brigidas Vater galt als einer der reichsten Seidenhändler der Stadt, und es war üblich, daß die wohlhabenden Florentiner Bürger ihre Kinder in den ersten beiden Jahren einer Amme anvertrauten, bei der sie blieben, bis ihre Eltern sie nach Ablauf dieser Zeit wieder zurück nach Florenz holten. Und auch wenn es selbstverständlich war, daß die reichen Stadtkinder eine eigene Amme hatten, so
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