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Der Brennende Salamander

Der Brennende Salamander

Titel: Der Brennende Salamander
Autoren: Ingeborg Bayer
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erstarren, mein Magen rebelliert, meine erstarrten Hände den Pinsel kaum mehr halten können, ich nehme es nicht mehr wahr. Und wenn ich es schließlich wahrnehme, befehle ich Füßen, Händen, Magen stillzuhalten, ich sage ihnen, daß es sie nicht gibt, jetzt nicht gibt. Später. Vielleicht. Aber sie wissen inzwischen längst, daß es sehr wohl sein kann, daß ich sämtliche Mahlzeiten auf einen Haufen werfe und keinerlei Lust empfinde, sie zu entwirren, und daß ich bisweilen mitten in der Nacht aufwache und mich dann wie ein Wolf auf irgend etwas stürze, was gerade an Eßbarem herumliegt, ohne jedoch zu wissen, was ich da in mich hineinschlinge. Wäre das Erdbeben während dieses Zustands der Versunkenheit losgebrochen, ich bin nicht einmal sicher, ob ich esüberhaupt wahrgenommen hätte.
    Dieses chaotische Dahinleben ist natürlich nur möglich, wenn ich irgendwo unterwegs bin, allein. In Messer Orellis Haus in Florenz sind wir alle dem exakten Tageslauf unterworfen, der von Mona Orelli vorgegeben wird. Verspätet sich einer von uns zum Mittagsmahl, würde sie ihn vermutlich am liebsten aus dem Raum weisen. Bin ich allein, auf mich selbst gestellt in irgendeiner fremden Stadt, in der wir vielleicht eine Kapelle auszumalen, ein Tafelbild fertigzustellen haben, stört es mich, wenn ich morgens bei diesem ganz und gar heiligen Zustand der ersten Pinselstriche unterbrochen werde.
    Und genau dies trat an diesem Morgen ein.
    Ich fühlte mich hinausgeworfen aus meiner Versunkenheit, brutal, so als schlage mir jemand mit einem Brett auf den Kopf. Ich fuhr aus meiner Arbeit hoch, benommen, unwillig und quälend zugleich, weil es etwas gab, das ich klären mußte, etwas, das keinen Aufschub duldete. Es mußte jetzt sein. Ich wischte mir in aller Eile die Hände an einem Tuch sauber, sprang auf und rannte in die Küche. Zu Brigidas Bett. Ich griff langsam unter das Kopfkissen, tastete die Matratze ab und zog dann einen Gegenstand hervor: einen kleinen runden Handspiegel, mit Perlen und Rubinen eingefaßt. Ein kostbarer Spiegel, der bereits die ersten Spuren des Erblindens zeigte.
    Brigidas Spiegel.
    Mein Spiegel.
    Brigidas Spiegel.
    Es stimmte also, ich hatte es nicht geträumt, als ich in der Nacht wach wurde und plötzlich etwas Hartes unter meinem Kopf zu spüren glaubte. Ich hatte danach gegriffen, mehr im Schlaf als im Wachen. Und mußte danach sofort wieder eingeschlafen sein. Ich wiege den Spiegel in meiner Hand, betaste behutsam die Perlen, von denen eine beschädigt ist, was man vermutlich mir anlasten würde. Ich schaue in diesen Spiegel. Ich sehe einen nicht mehr ganz jungen Mann von unbestimmbarem Alter, die Haare exakt gekämmt – auch dies ein Relikt aus meiner nicht normalen Kindheit –, die Augen stets leicht verkniffen, weil meine Sehschärfe bereits nachzulassen beginnt und ich zum Lesen bei schlechtem Licht ein Augenglas benötige. Meine Haut ist nicht eben rein, sie hat Pickel. An manchen Tagen mehr, an manchen weniger; je nachdem, wie ich mich fühle.
    Ich sehe mich. Ambrogio Innocente. Einen, der zu den gettatelli gehört. Zu den ›weggeworfenen‹ Kindern.
    Und obwohl mir klar ist, daß in diesem Augenblick keinesfalls der rechte Zeitpunkt ist, alten Geschichten nachzuhängen, kann ich es nicht verhindern, daß diese alten Geschichten in diesem Augenblick ungewollt über mich hereinbrechen. Mit Gewalt. Nicht anders als dieses Wasser, das gestern ungefragt den Berg hinaufschoß.
    Ich erinnere mich.
    Ich sehe ein rundes Gesicht über mich gebeugt, darüber eine weiße Haube. Das Gesicht gehört einer Frau, ich vermute, daß es Haare sind, die sie unter der Haube versteckt. Aber vielleicht besitzt diese Frau auch gar keine Haare, und sie trägt diese Haube, um zu vertuschen, daß ihr Kopf kahl ist. Die Frau sitzt in einer Reihe mit anderen Frauen, die ebenfalls ihre Haare unter Hauben versteckt haben, auf einer langen Bank. Eine neben der anderen wie Hühner auf einer Stange, wenn die Nacht hereinbricht.
    Die Frauen, die auf der Bank sitzen, haben außer der weißen Haube ein anderes hervorstechendes Merkmal: halbrunde Gebilde, die wie Gewächse auf ihren Rippen sitzen, Gebilde, die die Männer nicht haben. Es sind Brüste, und sie haben unterschiedliche Formen: Sie sind zitronenförmig, apfelprall, manche sehen wie Birnen aus. Bei einigen scheint es, als seien sie bereits seit Jahrzehnten benutzt worden. Zumindest behauptet das Sebastiano, von dem wir dies alles wissen und den wir dafür auf
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