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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts
Autoren: Masha Gessen
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seinen Lebzeiten gelöst würde.
    Carlson trat seine Stellung als Präsident des Clay Mathematics Institute im Sommer 2004 an, just zu jener Zeit, in der sich der Streit um Perelmans Beweis zusammenbraute. Ich hatte stets den Eindruck, dass Carlson eine große, potenziell überwältigende Scheu in Schach halten musste, um der zu sein, der er war, und um das zu tun, was er tat. Er sprach leise, war zurückhaltend und extrem höflich, also so ziemlich die letzte Person, die man sich als im Mittelpunkt einer Kontroverse stehend vorstellen würde. Zum Glück wusste er, als er Präsident des Clay Mathematics Institute wurde, nicht genug, um sich ausmalen zu kön 291 nen, welchen Sturm der Preis in den Medien entfachen würde. »Ich hörte davon [von Perelmans Preprints]«, erinnerte sich Carlson im Gespräch mit mir, »und weiß noch, dass ich dachte: ›Ist es nicht toll, dass es vielleicht eine Lösung für die Poincaré-Vermutung gibt?‹ Und natürlich dachte ich auch an die Millennium-Preise, und dass dies mit Sicherheit der Einzige wäre, den jemand zu meinen Lebzeiten bekommen würde. Natürlich weiß man das nicht genau. Ich finde, so etwas ist wie ein Erdbeben: Man weiß es erst, wenn es passiert. Man kann vielleicht sagen, im Gestein baut sich eine Spannung auf, aber niemand hat bisher ein Erdbeben zuverlässig prognostizieren können. Und hier ist es genauso: Niemand weiß, wann jemand eine bahnbrechende Idee hat, die zu einer Lösung führt.«
    So dachte Carlson, einige Monate bevor er die Leitung des Clay Mathematics Institute übernahm. Er wusste, dass Perelman seine Preprints in arXiv gestellt hatte – heutzutage nichts Ungewöhnliches. Viele Mathematiker, die ihre Artikel zur Publikation bei Zeitschriften einreichen, stellen sie parallel dazu ins Netz, um die Diskussion darüber in Gang zu bringen, während das Begutachtungsverfahren der Zeitschrift noch läuft. Aber es stellte sich heraus, dass Perelman seine Artikel nicht bei einer Zeitschrift eingereicht hatte und dies offenbar auch nicht vorhatte. Was eine vollkommen harmlose und selbstverständliche Bedingung für die Millennium-Preise zu sein schien, entpuppte sich als mögliche Streitfrage.
    Mit Geschick und Noblesse steuerte Carlson das Millennium-Boot, organisierte Workshops zu Perelmans Beweis sowie zu den Bemühungen von Kleiner und Lott beziehungsweise von Morgan und Tian, ihn zu erläutern. 292 Im Gespräch mit mir verglich er Perelmans Arbeit mit einem »Lichtblitz, der einem hilft, den Wald zu durchqueren«. Natürlich sei »noch sehr viel zu tun, man muss jede Menge Bäume fällen, über Felsen klettern und so weiter. Aber das Schwierigste ist, diesen neuen Weg zu finden, denn wenn man ihn nicht findet, dann kann man noch so viel arbeiten, es führt zu nichts. Und Perelman hat genau das getan.« Dass die Projekte, die der Erklärung des Beweises dienten, deutlich weniger Ruhm versprachen als die ursprüngliche Lösung, liegt auf der Hand. Doch es gab sie, und auch das erfüllte Carlson mit Bewunderung – für die Mathematiker und für das mathematische »System«, das sich den ungewöhnlichen, von Perelman gesetzten Bedingungen gebeugt hatte, um die Art von Prüfung und Erklärung zu liefern, die sein Beweis erforderte.
    Carlson öffnete sein MacBook Air, um mir eine Passage aus Kleiners und Lotts veröffentlichten Kommentaren zu Perelmans Beweis vorzulesen, die er besonders bemerkenswert fand: »Hier ist es: ›Wir sind nicht auf ernsthafte Probleme gestoßen, das heißt auf Probleme, die sich nicht mit den von Perelman eingeführten Methoden richtigstellen lassen.‹ Ich glaube, das trifft genau, was passiert ist. Wissen Sie, es musste noch viel gearbeitet werden, um nachzuweisen, dass der Beweis richtig und vollständig ist. Aber der entscheidende Punkt ist, dass es keine ›ernsthaften Probleme‹ gab, solche, die sich nicht ›mit den von Perelman eingeführten Methoden richtigstellen lassen‹. Und an Methoden und Ideen herrschte kein Mangel. Diese einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln, ist immer schwer, aber ich hoffe, Sie können das machen, wenn Sie Ihr Buch schreiben.« Er meinte also, ich solle schreiben, 293 Perelman sei fraglos der Autor des Beweises, und dass Kleiner und Lott dies in einer Art und Weise bestätigt hätten, die er, Carlson, enorm bewundere.
    Die Monate vor dem ICM in Madrid – mit dem Artikel von Cao und Zhu sowie der ungewöhnlichen medialen Aufmerksamkeit – waren nervenaufreibend gewesen. Aber
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