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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts
Autoren: Masha Gessen
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sich auf Perelmans Arbeit einlassen sollte. Darüber hinaus könnte es sowohl in psychologischer als auch in mathematischer Hinsicht schwierig für ihn gewesen sein, die Tatsache zu verarbeiten, dass jemand urplötzlich eine Mauer durchbrochen hatte, gegen die er zwanzig Jahre lang vergeblich angerannt war. Aber wie schon vor zwanzig Jahren konnte Perelman zwar eine schier endlose Geduld aufbringen und interessierten Zuhörern wieder und wieder erklären, was er meinte. Aber er 237 konnte sich einfach nicht vorstellen, dass jemand Schwierigkeiten mit etwas hatte, das für ihn glasklar und nahezu selbstevident zu sein schien.
    Auch Princetons beharrliches Werben hatte Perelman verstimmt. Nach seinem Vortrag rief jemand von der Universität bei Anderson an und bat ihn um Unterstützung bei Perelmans Rekrutierung. Auf Perelmans Wunsch lehnte Anderson dies ab. Trotzdem richtete die Universität ein förmliches, schriftliches Angebot an Perelman – was dieser empörend fand. »Sie werden aufdringlich«, sagte er zu Anderson. Zu Perelmans vielen Verhaltensmaßregeln, die er einige Jahre nach dem Angebot von Princeton zum Ausdruck gebracht und vielleicht sogar formuliert hatte, zählte auch die Regel, dass »man sich niemals jemandem aufdrängen soll«. 14 Zunächst hatten sie ihn damals beleidigt, weil sie ihn baten, sich auf eine Stelle zu bewerben; nun beleidigten sie ihn, weil sie ihm ihre Gunst zu beharrlich erwiesen.
    Abgesehen von seiner aufrichtigen Bewunderung für Perelman hatte Anderson offenbar auch einen ausgeprägten Sinn für dessen Grenzen. Er bekam es augenscheinlich hin, ihn nicht vor den Kopf zu stoßen und dennoch den gleichen Plan zu verfolgen wie die anderen amerikanischen Gastgeber: Perelman dazu zu bewegen, an seiner Universität zu bleiben und ihn aus seiner Isolation herauszuholen. Er unternahm mehrere Versuche, ihn abends zum Essen auszuführen, und manchmal gelang ihm das auch. Einmal gab er zu Ehren Perelmans eine Party bei sich zu Hause, dieser Abend allerdings scheint ziemlich schiefgegangen zu sein: Anderson und sein Freund Cheeger gerieten in einen lautstarken Streit über die amerikani 238 sche Invasion im Irak, die Cheeger verteidigte. Anderson hingegen hielt sie für falsch und ist wohl recht heftig geworden. »Grischa hörte nur zu«, erinnerte er sich. »Er schien überhaupt keine Meinung zu der Frage zu haben.« Außer der unumstößlichen Meinung natürlich, dass über Politik zu reden eines Mathematikers nicht würdig sei.
    Anderson stellte Perelman auch Jim Simons vor, der den mathematischen Fachbereich von Stony Brook zu einem der besten im ganzen Land gemacht hatte, dann als Hedgefonds-Manager sagenhaft reich geworden war und viel Geld für wohltätige Zwecke stiftete, auch für die Universität Stony Brook. »Simons sagte, er hätte gern, dass Grischa dorthin käme – gleichgültig zu welchen Bedingungen, mit welchen Gehaltsforderungen und Anwesenheitsverpflichtungen, auch wenn er nur einen Monat im Jahr da wäre«, erzählte Anderson, »und Simons hatte den Einfluss und das Geld, so etwas möglich zu machen. Grischa sagte: ›Ich danke Ihnen, das ist sehr nett, aber ich möchte darüber jetzt nicht reden. Ich muss nach St. Petersburg zurück, um Oberschüler zu unterrichten.‹ Er hatte eine Verpflichtung für den Herbst 2003 .«
    Nur Perelman selbst konnte wohl völlig verstehen, was Perelman da sagte. In einem beliebten russischen Witz wird einem Schauspieler von einem der großen Filmstudios in Hollywood eine bedeutende Rolle angeboten. Er entscheidet sich, die Rolle zu übernehmen, und ist in Hochstimmung, bis er erfährt, dass die Dreharbeiten im Dezember stattfinden sollen. »Ich kann es nicht machen«, sagt er. »Ich habe Einladungen zu Neujahrspartys«; das heißt, er hat zugesagt, für Kinder Väterchen Frost (die russische Version des Weihnachtsmanns) zu spielen – und diese 239 Auftritte bedeuten ihm so viel, dass er die Chance seines Lebens ausschlägt. Perelmans Ausrede klang so absurd wie rührend – aber es war offenbar nur eine Ausrede. Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, gab es im Herbst 2003 nur eine Verpflichtung. Er sollte an einem eintägigen Mathewettbewerb an einer Fachschule für Physik und Mathematik in St. Petersburg teilnehmen, was er auch tat, 15 was aber keineswegs ausgeschlossen hätte, eines der vielen Angebote amerikanischer Einrichtungen anzunehmen. Der eigentliche Grund, aus dem er alle Angebote ausschlug, war einfach: Ihn schreckte die
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