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Der Beweis des Jahrhunderts

Der Beweis des Jahrhunderts

Titel: Der Beweis des Jahrhunderts
Autoren: Masha Gessen
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schlimmstenfalls lächerlich. 10
     
    Nach seinen Vorlesungen am MIT reiste Perelman nach New York City, wo seine Mutter auch diesmal bei Verwandten wohnte. Er blieb übers Wochenende und fuhr am Sonntagabend mit dem Zug nach Stony Brook. Mike Anderson holte ihn am Bahnhof ab und führte ihn zu dem Wohnheim, in dem ein Zimmer für ihn reserviert war. Seine Unterkunft solle »so bescheiden wie möglich« sein, das hatte Perelman ausdrücklich verlangt. 11 Am nächsten Tag hielt er seine erste Vorlesung und stellte einen Zeitplan für die kommenden zwei Wochen auf: morgens Vorlesungen und nachmittags Diskussionsrunden. Den Teilnehmern kamen diese Sitzungen vor wie ein Wunder. Vor ihnen stand jemand, von dem einige noch nie gehört hatten, während andere dachten, er sei verschollen, jemand, der die Poincaré geknackt hatte und nun fantastisch klare Vorlesungen hielt und ausnehmend geduldig mit ihnen diskutierte. 12
    232 Perelman spulte sein Programm genauso ab, wie er es gelernt hatte. Jeden Tag ging er zum Hörsaal, um zu erfüllen, was von ihm erwartet wurde, daher seine Klarheit und Geduld. In der Welt außerhalb des Hörsaals von Stony Brook entwickelten sich die Dinge jedoch zunehmend nicht nach seinen Erwartungen. Am Tag nach seiner Ankunft brachte die New York Times einen weiteren Artikel. 13 Wieder hieß es gleich zu Anfang, Perelman habe von sich behauptet, die Poincaré-Vermutung bewiesen zu haben, was so nicht stimmte, und erneut wurde die Lösung mit dem Preisgeld in Verbindung gebracht. Dann wird eine einzige Quelle zitiert: Michael Freedman, der die Fields-Medaille für die Lösung der Poincaré-Vermutung für Dimension vier bekommen hatte und nun bei Microsoft arbeitete. Kaum zu glauben, aber Freedman bezeichnete Perelmans Leistung als »einen kleinen Kummer« für die Topologie: Perelman habe die größten Probleme auf diesem Gebiet gelöst, weshalb es nun an Attraktivität verlieren werde, und »die brillanten jungen Leute, die wir jetzt haben«, werde es »nicht mehr geben«.
    Das muss Perelman heftig getroffen haben. Nachdem er sich mit Burago zerstritten hatte, war seine ohnehin kleine Bezugsgruppe auf ein paar Leute geschrumpft, die in der Lage waren, seinen Beweis zu verstehen. Am MIT hatte er Tian gesagt, er glaube, es werde anderthalb oder zwei Jahre dauern, bis sein Beweis vollständig verstanden sei. Aber von jemandem wie Freedman konnte man wohl erwarten, dass er die Eleganz – und die Korrektheit – von Perelmans Lösung sofort erkennt. Dass Freedman Perelmans Beweis als Rückschlag für ihr ehemals gemeinsames Gebiet darstellte, noch dazu in einem Interview mit einer 233 Zeitung, deren Leserschaft weder das Problem noch die Lösung jemals begreifen würde, musste ihn verletzen – und dies umso mehr, weil Freedmans Reaktion ziemlich unlogisch war.
    Wenn jemand wirklich etwas zu Perelmans Leistung zu sagen hatte – insbesondere zu den Argumenten in seinem ersten Artikel –, dann Richard Hamilton. Immerhin war Perelman nach dessen Programm vorgegangen. Es gehört zu den merkwürdigsten und tragischsten Aspekten dieser Geschichte, dass sich Perelmans und Hamiltons Welten tatsächlich nie wirklich berührt haben. Perelman gehörte nicht zu der – wie Anderson und andere sie nannten – »Ricci-Fluss-Gemeinde«, die sich in jenen zwei Jahrzehnten um Hamilton gebildet hatte, in denen dieser versucht hatte, die Matrix so hinzubiegen, dass sie der Vermutung entsprach. Perelman hat offenbar zweimal versucht, mit Hamilton ins Gespräch zu kommen – einmal nach einem seiner Vorträge, das andere Mal schriftlich, nach seiner Rückkehr nach St. Petersburg. Beide Male bat Perelman um Aufklärung über etwas, das Hamilton gesagt oder geschrieben hatte. Bei der zweiten Gelegenheit antwortete Hamilton nicht – was Perelman vielleicht verstanden hätte, hätte er das Verhalten anderer nach den Maßstäben beurteilt, die er für sich selbst in Anspruch nahm. Tatsächlich neigte auch der ansonsten für einen Mathematiker ungewöhnlich umgängliche Hamilton dazu, sich ausweichend, gelegentlich sogar einsiedlerisch zu verhalten, wenn auch vermutlich aus ganz anderen Gründen als Perelman. In der Regel reagierte er sehr verzögert auf Briefe und Anrufe. Anstatt in Hamiltons Verhalten ein vertrautes Muster wiederzuerkennen, war Perelman vermutlich einfach 234 frustriert, als dieser sich nicht rührte. Wenn er schon mal etwas brauchte, was tatsächlich nicht oft vorkam, erwartete er, dass andere darauf
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