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Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter
Autoren: Minette Walters
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war unfähig, derartige Verhaltens-störungen, die in den Sechzigerjahren noch kaum anerkannt waren, zu begreifen oder mit ihnen um-zugehen, und bat ihren Hausarzt, den Sohn für geisteskrank erklären zu lassen, bevor er »mit seinen Rasierklingen auf andere losgeht«.
    Dieses Ansinnen der Mutter überzeugte die Polizei 39

    davon, dass Howard Stamp des brutalen Mordes an seiner siebenundfünfzigjährigen Großmutter Grace Jefferies am Mittwoch, dem 3. Juni 1970, schuldig sei. Man fand Grace Jefferies in einem »Blutbad« in ihrer Wohnung in der Mullin Street in Highdown an der Grenze zwischen Bournemouth und Poole, sie war mit fünfunddreißig Messerstichen getötet worden. Die Presse sprach von einem »Mord der tausend Schnitte«, weil die meisten Verletzungen sich an ihren Armen und Beinen befanden, was nahe legte, dass sie eine ganze Zeit lang gefoltert worden war, ehe ihr Mörder ihr die Kehle durchgeschnitten hatte. Dem Pathologen zufolge hatte sie versucht, nach oben, in ihr Schlafzimmer, zu entkommen, während ihr Peiniger mit einem Tranchiermesser auf ihre Arme und Beine eingestochen hatte.
    Stamp geriet unter Tatverdacht, als sich Zeugen meldeten, die aussagten, sie hätten ihn am Mittwoch, dem 3. Juni, zwei Tage vor Auffinden des Leichnams am Freitag, dem 5. Juni, aus Grace Jefferies’ Haus laufen sehen. Blutflecken auf seiner Kleidung schienen den Tatverdacht zu bestätigen, und schließlich gestand er nach sechsunddreißig-stündiger Vernehmung den Mord. Wie Downing und Kiszko hatte auch er keinen Anwalt zur Seite und widerrief sein Geständnis schon kurze Zeit später. Er gab zwar zu, Hals über Kopf aus dem Haus seiner Großmutter gerannt zu sein, behauptete jedoch, diese sei bereits tot gewesen, als er 40

    mit seinem Zweitschlüssel das Haus betreten habe.
    Außer sich vor Entsetzen über das, was er vorgefunden hatte, war er nach Hause geflüchtet und hatte sich in seinem Zimmer eingesperrt, viel zu tief erschüttert, um mit irgendjemandem über das zu sprechen, was er gesehen hatte. Erst weitere achtundvierzig Stunden später meldete ein Briefträger, dass Grace Jefferies’ Vorhänge schon seit mehreren Tagen nicht mehr aufgezogen worden seien.
    Auf den ersten Blick schien der Fall klar, doch in der Beweisführung gab es eine Menge Ungereimt-heiten. So schätzte der Pathologe zunächst, dass Grace Jefferies zum Zeitpunkt ihrer Auffindung bereits vier Tage tot gewesen sei. Später machte man aus den vier Tagen achtundvierzig Stunden, weil das mit den Zeugenaussagen besser vereinbar war.
    Im Prozess erklärte der Pathologe die Diskrepanz als einen »Schreibfehler«, und die Verteidigung versuchte nicht, ihn in die Enge zu treiben. In ähnlicher Manier erklärte der Briefträger, der die Polizei auf Grace Jefferies’ geschlossene Vorhänge aufmerksam gemacht hatte, dass er, als er von »mehreren Tagen« gesprochen hatte, »höchstens zwei«
    gemeint habe. Auch hier unterließ es die Verteidigung, den Zeugen energisch ins Verhör zu nehmen.
    Die Blättchen geronnenen Bluts an den Knien von Stamps Hose und den Manschetten seines Hemds bestätigen seine Aussage: dass er neben seiner reglos daliegenden Großmutter niederkniete 41

    (zwei Tage nach ihrer Ermordung, wenn die erste Schätzung des Pathologen gestimmt hat), um zu sehen, ob sie tot war. Sie passen allerdings nicht zu der Behauptung von Polizei und Staatsanwaltschaft, dass er ein Bad nahm, um sich Grace’ Blut abzu-waschen, und dann, frisch gekleidet, eine blutbe-spritzte Wand streifte, als er ging. Wenn das zuträ-fe, wäre das Blut noch flüssig genug gewesen, um von den Gewebefasern absorbiert zu werden, und nicht Stamps Knie und Manschetten wären dann die Kontaktpunkte gewesen, sondern sein Rücken, sein Gesäß, seine Schultern oder Oberschenkel.
    Die Verteidigung versuchte, die forensischen Befunde zu erschüttern, die vor allem auf den Untersuchungen von Haaren und Proben getrockneten Schaums beruhten, die an den Seitenwänden und rund um dem Ablauf der Wanne sichergestellt worden waren. Die Anklage behauptete, Stamp habe sich nach dem Mord in die volle Wanne gesetzt, um sich zu säubern. Beide Seiten waren sich einig darin, dass Grace’ Mörder nach der Tat voller Blut gewesen sein musste. Die Anklage vertrat die Ansicht, dass Stamp den Mord entweder nackt begangen oder blutige Kleidungsstücke aus dem Haus entfernt habe. Diese zweite Vermutung gewann an Wahrscheinlichkeit, als ein Zeuge aussagte, Stamp habe bei seiner Flucht aus
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