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Der Außenseiter

Der Außenseiter

Titel: Der Außenseiter
Autoren: Minette Walters
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sich selbst mit einem Rasiermesser zu verletzen, muss es Vergnügen bereitet haben, mit einem Messer auf eine Frau loszugehen, die vor ihm Angst hatte«.
    Stamp wurde von seinen Verteidigern fraglos völlig im Stich gelassen. Daraus ergibt sich un-ausweichlich die Schlussfolgerung, dass sie von seiner Schuld genauso überzeugt waren wie die Polizei und die Anklage. Warum, ist schwer zu verstehen. Auch wenn seine sozialen Kompetenzen zu wünschen übrig ließen, auch wenn er rein äu-
    ßerlich eher abstoßend wirkte, so war er doch offensichtlich ein verletzlicher junger Mann mit wenig Selbstachtung und schweren emotionalen Störungen. Zur Beweisführung der Anklage würde die Theorie passen, dass Stamp ein unerkannter paranoider Schizophrener war, der eines Tages in einem wahnhaften Ausbruch von Gewalt eine Frau angriff, die ihn liebte.
    Es gibt keine Beweise, die diese Theorie untermauern würden. Er wurde von zwei Psychiatern auf seinen Geisteszustand untersucht, und keiner 49

    von beiden diagnostizierte eine Schizophrenie. Der psychologische Gutachter der Anklage beurteil-te Stamp als »ichbezogen und introvertiert, sonst jedoch normal«. Der Gutachter der Verteidigung fand ihn »depressiv und suizidal«.
    Howard ist Analphabet mit einem niedrigen IQ, was bedeutet, dass es ihm schwer fällt, einfache Anweisungen zu verstehen … Er ist äußerst zurückgenommen, insbesondere wenn er über sich selbst sprechen soll, sieht seinem Gesprächspartner nicht in die Augen und verdeckt seine untere Gesichtshälfte mit den Händen. Grund für diese Schamhaftigkeit, die einer fixen Idee gleichkommt, ist eine schlecht operierte Hasenscharte … Howard zeigt Anzeichen von Agoraphobie und verrät durch sein Verhalten fortwährend, dass er sich selbst für wertlos hält … Diese emotionalen Schwierigkeiten machen ihm in der Untersuchungshaft besonders zu schaffen, er fürchtet jegliche Interaktion mit den Beamten und anderen Einsitzenden … Diese Gefühle von Unzulänglichkeit machen ihn depressiv und suizidal.
    Sein Mangel an Vertrauen zu sich selbst und seinen Beziehungen mit anderen ist Besorgnis erregend. Ihm fehlt jegliche Selbstliebe, und er scheint davon überzeugt, dass er Strafe verdient.
    Aus diesem Grund hat er es sich in der Pubertät angewöhnt, seine Arme mit Schnitten zu verlet-50

    zen, und seit er im Gefängnis ist, verweigert er die Nahrungsaufnahme. Meiner Meinung nach leidet er schon seit geraumer Zeit an Anorexia nervosa, einer Essstörung, die bei jungen Männern relativ selten vorkommt. Auslöser dieser Störung kann die Überzeugung sein, man sei unattraktiv … In Howards Fall ist offensichtlich die deformierte Lippe die Hauptursache.
    … Ich halte ihn für nicht prozessfähig. Er ist nicht in der Lage, sich objektiv den Vorwürfen zu stellen.
    Hinzu kommt, dass die öffentliche Zurschaustellung seiner Person vor Gericht ihn derart quälen wird, dass eine Befragung gar nicht durchführbar ist.3
    Die Empfehlungen des Gutachters der Verteidigung wurden nicht berücksichtigt, und Stamp wurde für prozessfähig befunden. Nach dem heutigen Wissensstand auf dem Gebiet der Essstörungen ist es wahrscheinlicher, dass der junge Mann an einer körperdysmorphen Störung litt, auch body dysmorphic disorder, kurz BDD, genannt. Diese Störung ist im Spektrum der Zwangsstörung an-gesiedelt und ist keine Variante der Anorexie oder Bulimie, auch wenn Selbstbeschädigung und die Weigerung zu essen bei einer Verschlimmerung der Störung zu ihren Symptomen gehören. Bezeichnend 3 Aus Clinical Studies von Dr. Andrew Lawson (Random House, US, 1975)
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    für diese Störung ist eine obsessive Beschäftigung mit einem eingebildeten oder tatsächlichen Makel in der eigenen Person, meistens im Gesicht, wobei der Betroffene den Spott seiner Umwelt fürchtet. Im Allgemeinen beginnt die Störung in der Pubertät, wird chronisch und kann, wenn sie un-behandelt bleibt, zu Einsamkeit, Isolation, schwerer Depression und sogar Suizid führen.
    Wenn Stamp tatsächlich an dieser Störung litt, ist es wenig wahrscheinlich, dass er seine Großmutter getötet hat. Sie war der einzige Mensch, in dessen Gesellschaft er sich wohl fühlen konnte, denn sie war so gehandikapt wie er. Zwar hatte sie keine Hasenscharte, aber sie hatte beim Sprechen mit noch größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als er, sie hatte kaum Freunde und scheute sich so sehr wie er davor, das Haus zu verlassen. Sie waren zwei vom selben Schlag, und man muss die
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