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Der Ausloeser

Der Ausloeser

Titel: Der Ausloeser
Autoren: Marcus Sakey
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ein paar Zentimeter über dem Tresen, parallel zur Theke, ging ein Riss durch sein Denken: Die eine Hälfte konzentrierte sich auf den Augenblick, auf das Wesentliche, auf die eine, entscheidende Bewegung, und vergaß alles andere. Die andere Hälfte zeigte ihm Szenen aus seinem Leben: Wie ihm sein Vater im Schatten der Bäume auf ihrer Straße Fahrradfahren beigebracht hatte. Die Sonne auf seinen Armen, Jimi Hendrix im Ohr, das spritzende Wasser, während er im Schnellboot seines Kumpels die Wellen des Lake Michigan durchpflügt hatte. Der erste Schnee eines beliebigen Winters, um ihn herum nichts als zartes Weiß, als er an einem Buchladen am Broadway vorbeigeschlendert war. Die schlafende Jenn im Mondlicht, die sanften Rundungen ihres Körpers, geschwungen wie ein Cello.
    Mitch holte aus und schleuderte die Flasche auf das Regal hinter der Theke. Alles, was er hatte, legte er in diesen einen Wurf, nicht nur seine ganze Kraft, sondern sein ganzes Leben, alles, was er war und jemals sein wollte.
    Die Flasche wäre womöglich meilenweit weitergesegelt, wäre hinaus in die grenzenlose Nacht geflogen, vorbei am Mond.
    Doch sie krachte knapp über Victors Kopf in die schimmernden Reihen der Flaschen und zerbarst. Plastik und Glas zersplitterten und zerfielen. Durch die Wucht des Einschlags wurde der Inhalt des Regals gegen die verspiegelte Rückwand gepresst, um sofort wieder zurückzuprallen und sich in feuchten, geometrisch perfekten Mustern zu verteilen. Vollendet runde Tropfen spritzten in alle Richtungen, Flaschen zersprangen wie in Zeitlupe, die unabänderlichen Gesetze der Physik ließen Fäden aus Flüssigkeit in die Luft schießen, kollidieren, versickern wie versagende Sprinkleranlagen.
    Während die Welt um ihn herum im Chaos versank, liefen in Mitchs Kopf weiter die Bilder seines Lebens ab. Wie seine Mutter vor dem Abschlussball an seinem Smoking herumgezupft hatte. Sein 68er LeBaron mit der wie zu einem Grinsen geschwungenen Stoßstange. Der Rückstoß des Revolvers, die instinktive Lust am Töten, die er sich nie eingestanden hatte.
    Der Abend, als er die anderen drei kennengelernt hatte: Alex, Ian, Jenn.
    Genau hier, am selben Ende derselben Bar, hatte er sie zum ersten Mal gesehen. Sofort war eine Verbindung zwischen ihnen entstanden, ein seltsames Gefühl der Erfüllung, das allein auf dem Glauben fußte, sich in den anderen wiederzuerkennen. Von diesem Moment an hatten sie gewusst, dass es etwas gab, das ihnen niemand nehmen konnte, egal was noch passieren sollte, und wenn sie sich tausendmal in den Rücken fielen: das Gefühl, ein Stück weit vollständiger zu sein. Gefunden zu haben, was ihnen gefehlt hatte.
    Mitch lachte, während ein tödlicher Regen auf sie herniederging.

34
    HINTERHER VERSUCHTE JENN LACIE IMMER WIEDER, DEN EXAKTEN MOMENT ZU BESTIMMEN.
    Es hatte ein Davor gegeben, da war sie sich sicher. Ein Davor, als sie jung und frei gewesen war, manchmal sogar fröhlich, wenn sie einen besonders guten Tag hatte. Im Rückblick ähnelte dieses Davor einem Prospekt für ein Hotelresort in den Tropen – ein Mädchen im Sommerkleid mit einem Strohhut auf dem Kopf, das knietief im azurblauen Wasser steht und in die Kamera lächelt. Früher hatte sie ihren Kunden solche Reisen angedreht, ohne jemals selbst die Koffer zu packen.
    Und dann war da natürlich das Danach. Und die vielen Tage, die noch kommen sollten.
    Aber es gab keinen eindeutigen Moment, kein entscheidendes Bild. Immer, wenn sie darüber nachdachte, geriet ihre Erinnerung ins Stottern, brach ab, sprang von einem Bild zum anderen. Eine Verwicklung hatte zur anderen geführt, ein Knäuel aus Ursachen und Konsequenzen – wie sollte man das alles entwirren? Trotzdem, sie musste es versuchen. Das war ihre Aufgabe, eine wichtige Aufgabe. Das war sie den anderen schuldig.
    Heute Abend führten ihre Gedanken sie immer wieder zu demselben Moment, demselben Sekundenbruchteil: Ian auf dem Boden, ihre Blicke begegnen sich – und sie begreift, was er vorhat, was er von ihr erwartet. Der Moment, in dem sie sich entschieden hatte, das Richtige zu tun. Auch wenn es ihr alles andere als leichtgefallen war, die Wohnungstür aufzureißen, die Treppe hinunterzurennen und ihren Freund zurückzulassen.
    Doch das Adrenalin trieb sie an, eine aberwitzige Energie, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Sie gab alles. Sie wollte sich nach ihrem Verfolger umschauen, aber sie wagte es nicht, auch nur einen Augenblick zu vergeuden, und so beugte sie sich vor,
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