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Der Ausloeser

Der Ausloeser

Titel: Der Ausloeser
Autoren: Marcus Sakey
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Auf einmal fügten sich die Puzzleteile zusammen. Fast meinte sie, ein leises Klicken zu hören. Im selben Moment stolperte Ian zur Seite und taumelte mit einem dumpfen Knall gegen die Wand, stützte sich noch kurz an ihr ab und krachte schließlich auf den Boden. Er versuchte nicht mal, den Sturz abzufangen. Seine Arme und Beine zitterten und zuckten, trommelten einen hektischen Rhythmus auf die Holzdielen, als wären ihm böse Geister in die Glieder gefahren. Hatte er einen Anfall, oder was?
    »Mann, was ist denn jetzt schon wieder?« Der Fremde wirkte leicht entnervt. »Was soll das Theater?«
    Ian drehte sich schwerfällig auf den Rücken. Für einen Sekundenbruchteil öffnete er die Augen und blickte ihr ins Gesicht – und Jenn wusste plötzlich, was hier vor sich ging.
    »Aufstehen, verdammt noch mal«, sagte der Fremde und zielte auf sein Gesicht.
    »Ich glaube, er hat einen Anfall«, meinte Jenn.
    »Und was macht man da?«
    »Soll er doch verrecken.«
    »Du bist ja ein echtes Herzchen.« Zögernd trat er einen Schritt vor und stieß Ian mit dem Fuß an. »Hey.«
    Ian reagierte nicht. Erst als er ihm zum zweiten Mal in die Rippen trat, packte er zu. Mit beiden Händen presste er den Schuh des Fremden an die Brust und rollte sich zur Seite. Der Fremde verlor das Gleichgewicht, knickte an den Knien ein und krachte mit voller Wucht auf seinen Oberkörper – und während Ian unter dem Gewicht ächzte, knallte es, ein lauter, heller Blitz im dämmrigen Licht des Flurs. Gipsstaub rieselte aus einem Loch in der Decke.
    Obwohl der Fremde von Ians Aktion völlig überrumpelt worden war, reagierte er erstaunlich schnell. Sofort setzte er das andere Knie auf den Boden und richtete die Pistole auf Ians Gesicht. Als Ian sein Handgelenk packte, schlug der Fremde mit der anderen Hand zu, ein kurzer, harter Fauststoß, der Ians Kiefer knacken ließ. Plötzlich wirkte ihr Freund wie ein kleines Kind, eine dünne Gestalt mit wachsweißer Haut, die auf dem Boden lag und aus dem Mund blutete. Er hatte nicht den Hauch einer Chance.
    Zumindest nicht allein.
    Als sie sich in Bewegung setzte, rollte Ian den Kopf zur Seite und sah sie an, ein Blick, der keinen halben Atemzug dauerte und sich trotzdem für immer in ihre Netzhaut einbrannte. Sie trat einen weiteren Schritt vor. Unmerklich schüttelte er den Kopf und starrte sie mit bettelnden, flehenden Augen an.
    Was hatte er vorhin auf der Couch gesagt?
    Vor allem beim allerletzten Spiel, oder wenn es um etwas wirklich, wirklich Wichtiges geht. Wichtiger als alles andere. Dann musst   du   den anderen verraten. Dann geht es nur noch darum, die eigene Haut zu retten.
    Deshalb hatte er das »du« betont – weil er da bereits gewusst hatte, was er gleich tun würde. Um ihr seinen Plan zu vermitteln.
    Vor allem, um ihr zu erklären, dass er sich entschieden hatte, dass er alle Faktoren berücksichtigt hatte und zu einem klaren Schluss gekommen war: Sie konnten nicht mehr gewinnen. Deshalb wollte er dafür sorgen, dass sie zumindest nicht auf ganzer Linie verloren. Er spielte nicht den Helden, er hatte sich nicht zu Jenns Beschützer aufgeschwungen. Er hatte die Situation bloß als Spiel betrachtet, als simple Kosten-Nutzen-Rechnung: Sein Leben gegen ihre Flucht. Wenn er sich opferte, konnte sie die Polizei informieren. Das schien ihm ein guter Deal zu sein.
    Sie starrte auf ihren alten Freund. Sollte sie ihm zu Hilfe eilen? Fragte sich nur, wie weit sie mit ihrem bisschen Anfänger-Kickboxen gegen einen bewaffneten Profikiller kommen würde. Fitnessstudio gegen Kampferfahrung.
    Der zweite Schlag riss Ians Kopf zur Seite. Jenn sah seine Augen nicht mehr, seine Hände rutschten vom Handgelenk des Fremden ab. Und der Fremde zielte.
    Sie konnte es immer noch versuchen. Aber sie wusste, was passieren würde, wenn sie scheiterte.
    Das letzte Spiel. Ein unglaublich hoher Einsatz. Du weißt, was du zu tun hast.
    Jenn drehte sich um und rannte zur Tür.
    Alex blickte über Mitchs Schulter auf den selbstzufrieden lächelnden Victor – und auf das Handy in seiner Hand. Selbst aus ein paar Metern Entfernung war das Bild klar zu erkennen: Jenn und Ian. Victor hatte sie in seiner Gewalt.
    Sie hatten versagt, von vorne bis hinten versagt. Nicht mal Cassie hatte er beschützen können. Er glaubte zwar nicht, dass sie tatsächlich dem Sarin zum Opfer fallen würde, nein, so naiv war er nicht, auch wenn er kaum etwas von Wahrscheinlichkeitsrechnung verstand. Doch Victor hatte ihnen mehr oder weniger
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