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Der Ausloeser

Der Ausloeser

Titel: Der Ausloeser
Autoren: Marcus Sakey
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hier, doch anfangs war es ihm nur unterbewusst aufgefallen; solche Muster erfasste das menschliche Gehirn nie auf Anhieb. Er musste sich schwer zurückhalten, um nicht die Sekunden herunterzuzählen. Aber damit hätte er gegen die Regeln verstoßen.
    Exakt um 20.00 Uhr schaltete sich die Klimaanlage ab. Das Geräusch, das den Takt seines gesamten Arbeitstags vorgegeben hatte, war auf einmal nicht mehr da. Ian lächelte.
    Natürlich war das eine alberne Marotte. Aber wenn er schon achtzig Prozent der Zeit, die er nicht im Bett herumlag, in einem grauen Konzernbüro zubringen musste, hatte er ein Recht auf seine kleinen Siege. Zumal er sich nicht erinnern konnte, an der Wahlurne jemals für ein solches Leben gestimmt zu haben. Nein, ganz sicher nicht. Meistens tauchte er schon vor sechs Uhr früh auf, also rechtzeitig, um mitzuerleben, wie sich die Klimaanlage einschaltete. Ein Tag war wie der andere: Die Zeit verflog in einem Nebel raubtierhafter Geschäftigkeit, das Headset verschmolz so vollständig mit seinem Körper, dass er oft nicht daran dachte, wenn er von seinem Platz aufstand, und sich halb mit dem Kabel erdrosselte. Ein Manöver nach dem anderen wickelte er ab, immer von der Hoffnung getrieben, dieser eine Coup könnte seinen alten Ruhm wiederherstellen, und er wäre wieder das Wunderkind, das Hudson-Pollom Biolabs geknackt und dabei auf die Schnelle eine halbe Million gemacht hatte. Denn allmählich beschlich die anderen der Verdacht, er könnte doch eher unter ferner liefen einzuordnen sein. Das Mittagessen schlang er am Schreibtisch herunter, immer ein Bissen zwischendurch. Am Vor- und Nachmittag jeweils ein Ausflug aufs Herrenklo, zwei Kurztrips ins Schneeparadies, um ihn am Laufen zu halten. Wenn die Telefone verstummten, blieb er sitzen, las Finanzblogs, schmiedete Pläne für den nächsten Tag und versuchte, auf seine unaufgeregte, leicht abwesende Art, seine Verluste reinzuholen. Nur wie?
    Zu guter Letzt zog er sich hierher zurück, in seinen Porzellanpalast, um der Arbeit einen kleinen Gutenachtkuss zu geben. Danach konnte das eigentliche Abendprogramm beginnen.
    Er zwickte sich in die Nase und klapperte mit dem Papierspender, als hätte er tatsächlich sein Geschäft verrichtet – ein kleines Theaterstück, obwohl das Herrenklo menschenleer war. Solche Angewohnheiten musste man pflegen, denn eines Tages würde er es doch nicht bemerken, wie sein Boss hereinspaziert kam. Ian spülte herunter, trat aus der Kabine, wusch sich die Hände und betrachtete sich im Spiegel: Seine Nase war blitzblank, seine Krawatte saß perfekt. Er war bereit.
    Mit einem Lächeln formte er die Fäuste zu Pistolen, zielte auf sein Spiegelbild und drückte ab. Natürlich war auch das mehr als lächerlich, aber was soll’s? Ein reiner Privatscherz, den niemand sonst mitbekam. Wie die meisten seiner Scherze. Egal. Raus hier.
    Heute war Donnerstagabend. Wahrscheinlich warteten die anderen schon auf ihn. Alex würde hinter der Bar stehen, in einem ausgeblichenen Hemd mit alten Flecken auf den Ärmelaufschlägen. Jenn würde wie immer an einem Wodka Martini nuckeln; seit Sex and the City trank sie keine Cosmopolitans mehr. Und Mitch würde mit dem Barhocker kippeln und Jenn verstohlene Blicke zuwerfen, die möglichst niemand bemerken sollte. Die gute alte Donnerstagabend-Runde. Als er sie in Gedanken vor sich sah, musste Ian wieder lächeln. Schon komisch, dass ausgerechnet ihre Freundschaft gehalten hatte. All die anderen, die mit ihm aufgewachsen waren, die seine Freundschaftsbücher vollgekritzelt und ewige Treue geschworen hatten, waren still und leise aus seinem Leben verschwunden. Sie waren nach New York oder in die Vororte gezogen, sie hatten geheiratet und Kinder bekommen.
    Das hätte ihn durchaus traurig machen können, aber das ließ Ian nicht zu. Warum auch? Er war jung, seine Freunde warteten auf ihn, und kein Schwein wusste, dass er eine dicke Ladung Koks intus hatte.
    Mitch stieg in den Bus. Es war nur noch ein Platz frei, neben einem Schwarzen in einer aufgeplusterten Jacke mit Looney-Tunes-Aufdruck und locker sitzenden Jeans, der einen Fuß auf den freien Sitz gestellt hatte. Mitch nickte ihm zu. »Entschuldigung.«
    Zunächst nahm der Typ überhaupt keine Notiz von ihm, ehe er den Kopf in aller Ruhe drehte und Mitch von unten herauf musterte, aus halb geöffneten Augen, einen Zahnstocher zwischen den feuchten Lippen – ein völlig leerer Blick. Nach einer Weile wandte er sich ab und schaute wieder aus dem
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