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Der Ausloeser

Der Ausloeser

Titel: Der Ausloeser
Autoren: Marcus Sakey
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schon zur Polizei, Detective?«
    »Könnte man sagen, ja.«
    Sie fummelte an einem Nagelhäutchen herum. »Dann haben Sie Glück. Ich habe eigentlich nie so recht gewusst, was ich einmal machen möchte. Als Kind hatte ich alle möglichen Träume, das übliche Zeug – ich wollte Piratin werden oder Astronautin oder Filmstar. Oder einfach die Welt retten. Ich dachte, mein Leben würde einen Sinn ergeben.« Jenn sah ihn an; der Detective schien ihr wirklich zuzuhören. »Aber die Zeit bleibt nicht stehen. Und so vergeht ein Jahr nach dem anderen, und du wirst eben nicht Astronautin, und die Welt rettest du auch nicht. Eines schönen Morgens wachst du auf, bist über dreißig und realisierst, dass du immer noch nichts geschafft hast. Du bist nicht da, wo du immer hinwolltest. Nicht dass mein Leben besonders schlimm wäre, überhaupt nicht. Aber ich hatte mir etwas anderes erhofft.«
    »Verstehe. Das Recht auf Leben, Freiheit und Streben nach Glück … Klar, dass man da manchmal ins Fantasieren kommt. Aber so etwas wirklich durchzuziehen …«
    »Am Anfang war es bloß ein Spiel. Alles war ein Spiel, unsere ganze Freundschaft. Eigentlich unser ganzes Leben. Wir haben immer nur abgewartet, das Leben an uns vorbeiziehen lassen, und Donnerstagabend sind wir einen trinken gegangen.« Sie zuckte die Schultern. »Ich glaube, für uns war das alles einfach nur ein Spiel. Fast bis zum Schluss.«
    »Und wann haben Sie aufgehört? Wann war das Spiel zu Ende?«
    »Heute Abend. Heute haben wir aufgehört. Alle.«
    Der Detective verzog das Gesicht. Offenbar hatte er sie falsch verstanden. Wahrscheinlich glaubte er, sie hätte damit die Tatsache gemeint, dass die anderen tot waren und sie in einem Polizeirevier festsaß. Er irrte sich. Sie hatte an den Moment gedacht, an dem sie die freie Wahl gehabt hatten: auf Victors Deal einzugehen, sich für das scheinbar kleinere der beiden Übel zu entscheiden und ihr Leben mit den entsprechenden Konsequenzen weiterzuleben – oder zu kämpfen. Sie hatten beschlossen, dass es sich lohnte, zu kämpfen. Dass es sich lohnte, etwas zu riskieren, auch wenn sie sich damals noch nicht vorstellen konnten, dass sie wirklich   alles   riskieren würden. Doch selbst wenn sie es gewusst hätten, an ihrer Entscheidung hätte es nichts geändert.
    Die Spieltheorie war schön und gut, aber das echte Leben war etwas völlig anderes.
    Jenn überlegte, ob sie dem Detective erklären sollte, was sie gemeint hatte. Aber wozu? Er würde es sowieso nicht verstehen. »Und wie geht es jetzt weiter?«
    »Das wird man sehen. Im Moment kann sich hier keiner entscheiden, ob Sie eine Kriminelle oder eine Heldin sind.«
    »Meine Freunde waren Helden«, flüsterte sie. »Ich bin wahrscheinlich … weder noch.«
    »Oder beides.« Er stand auf. »Kommen Sie. Es ist spät.«
    »Bringen Sie mich jetzt in die Zelle?«
    »Noch nicht. Solange mir nichts anderes gesagt wird, betrachte ich Sie lieber als Heldin.«
    Bradley streckte die Hand aus, sie ließ sich aufhelfen und folgte ihm in eine Kammer neben den Büros der Detectives. An den Wänden standen schmale Feldbetten.
    »Hier haben Sie Ihre Ruhe. Schlafen Sie ein bisschen.«
    »Ich glaube kaum, dass ich schlafen kann.«
    »Sie sollten es wenigstens versuchen.« Er führte sie zu einem Bett und reichte ihr eine zusammengefaltete Decke. »Es hat gerade erst angefangen.«
    Jenn schüttelte den Kopf. »Nein. Es ist vorbei.«
    Bradley drückte ihr die Decke in die Hand, ging zur Tür und blieb noch einmal stehen, die Finger am Lichtschalter. »Sie haben sich einiges geleistet, Sie und Ihre Freunde. Überfall, Mord … Okay, am Ende haben Sie sich gestellt, aber …«
    »Ich weiß. Ich erwarte keinen Freispruch. Ich will keinen Freispruch.«
    Er sah sie merkwürdig an. Zuerst dachte sie, er würde noch etwas sagen, doch dann schaltete er das Licht aus. Leise schloss sich die Tür.
    Und Jenn Lacie legte sich auf das Feldbett. Die Federn knarrten unter ihrem Gewicht. Die dünne Matratze war durchgelegen von den Menschen, die vor ihr hier geschlafen hatten. Hier gönnten sich Detectives eine Verschnaufpause bei ihrem Unterfangen, Leben zu retten und Ermordete zu rächen.
    Nun lag sie hier und malte sich die nächsten Wochen und Monate aus. Die Zeitungen und das Fernsehen würden sich auf sie stürzen. Fragen über Fragen. Tagelang würde sie ihnen erklären müssen, was passiert war, einem Reporter nach dem anderen. Dann der Prozess und, wahrscheinlich, die Strafe. Und warum auch
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