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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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können, woran sie ihn in dieser Nacht gehindert hatte. Und dann diese Besucherin. Mit der Sonnenblume. In
    deren gelbumflammte dunkle Unergründlichkeit konnte er
    jetzt starren.

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    2.

    Anna kam, er saß immer noch auf der Terrasse. Guten
    Abend, sagte sie und ließ ihre Lippenpartie ein bißchen
    entgleisen. Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sieʹs gern?
    Gottlieb sagte: Unglaublich.
    Und Anna: Vor allem die Sonnenblume.
    Gottlieb nickte so sachlich wie möglich. Anna legte auf den
    Tisch, was sie geleistet hat, den Pfullendorfer Abschluß, die Hälfte der Provision, per Scheck, EURO 6000. Gottlieb stand
    auf. Er würde das sofort buchhalterisch erledigen. Gratuliere,
    sagte er. Ich dir, sagte sie. Ja, sei doch tief rührend, kommt so eine jung‐schön‐gescheite Philosophin aus Amerika, um
    Wendelin Krall anzuschauen. Wie ich sehe, habt ihr das
    gebührend gefeiert. Zeigte auf die halbleere Calvados‐
    Flasche. Und daß er mitgetrunken habe, zeige doch, wie
    nahe ihm dieser Besuch gegangen sei.
    Gottlieb konnte jetzt nicht sagen, daß er erst getrunken habe, als die Besucherin wieder weg gewesen sei. Das war ja
    noch viel schlimmer, als mit ihr zusammen zu trinken. Jetzt
    nimmʹs nicht so schwer, sagte Anna, vierzig Jahre, das kann
    man doch auf sich beruhen lassen. Gottlieb dachte: Woher weiß sie das, vierzig Jahre, es können genau so gut
    zweiunddreißig Jahre sein oder sechsunddreißig. Typisch
    Anna. Alles so negativ wie möglich. Immer schon. Immer ist
    alles zu Ende. Sie zieht dich hinab. Nicht absichtlich.
    Unwillkürlich. Ihre Spezialität, in allem das Ende herauszuspüren. Besonders an lichtlosen Tagen. Sie war immer

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    lichtabhängig. Das Licht regelte alles bei ihr. Wenn sie Ende
    Juni spazieren gingen und alles noch blühte und grünstens prangte, konnte sie sagen: Der erste Herbsttag heute. Und das lag am Licht. Wenn er, durch sie aufmerksam geworden,
    dieses Licht mit seinen Sinnen prüfte, mußte er ihr recht geben, durch irgendwelche Druck‐ und Feuchtigkeitsum-stände war trotz aller Grünherrschaft ein Hauch kühles Gold
    in der Luft, ein Herbstschimmer, unverkennbar. Er, vom
    oberflächlich herrschenden Grün eingenommen, hätte das
    nicht bemerkt.
    Er ging an ihr vorbei, zeigte, daß er die Papiere versorge, den Scheck werde er morgen gutschreiben lassen. Bloß kein
    Gespräch jetzt. Er mußte ihr jetzt bestätigen, daß auch er der
    Ansicht sei, eine vierzig Jahre jüngere, das könne man auf sich beruhen lassen. Auf sich beruhen, oh Anna! Ist ja gut.
    Solange er nichts sagen muß, erträgt er alles. Wenn er ihr nur
    nicht ins Gesicht sagen muß: Stimmt, vierzig Jahre, da
    erlischt jedes Problem! Sie sagte, sie habe sich doch auch darüber gefreut, daß Wendelin Krall noch so schöne
    Wirkungen zeitige. Von seinen Pseudonymen sei ihr
    Wendelin Krall immer das liebste gewesen. Das sei doch
    einfach ein lieber Name. Wendelin Krall. Er nickte. Verbarg,
    daß er staunte. Berührte sie leicht an der Schulter. Dann hörte er sich sagen, er müsse noch wegfahren, heute. Wohin,
    fragte sie. Er komme ja gleich wieder, sagte er. Er holte seinen Autoschlüssel, gab sich eilig, fuhr ab. Nur nichts sagen müssen jetzt. Daß das erwartet, ja verlangt werden kann, immer alles sagen! Das ist doch Seelenmord. Er will doch selbst nicht wissen, wie es in ihm momentan aussieht.
    Und dann soll er es Anna so sagen, daß sie es nicht nur 28
    versteht, sondern auch noch billigt! Ohne zu lügen nicht zu machen. Und lügen in Gottliebs Alter − das war Seelenselbst-mord. Er war sich im Augenblick nur erträglich, wenn er nichts sagen mußte. Einfach nur tun, was er mußte. Aber nichts sagen, nichts erklären. Jetzt fuhr er also offenbar nach
    Langenargen. Und durch Langenargen, bis zur Uferstraße.
    Eine Großtante, die im Mercedes zur Bridgepartie nach Bad
    Schachen fährt, haust nicht in einer Zweizimmerwohnung.
    In der Gegend der Villen hatte Gottlieb, als er noch den Han‐
    del besorgte, mehr als ein Haus von innen kennengelernt.
    Eine Familie Gutbrod hatte nie zu seinen Kunden gehört,
    weder als Käufer noch als Verkäufer. Aber vielleicht hieß die
    Großtante gar nicht Gutbrod. Beate Gutbrod. Er konnte sich
    nicht vorstellen, die Besucherin je Beate zu nennen. Sie hatte
    mit fortschreitendem Calvadoskonsum manchmal von ame‐
    rikanischen Gewohnheiten Gebrauch gemacht und ihn
    Wendelin genannt. Immer eingebettet in Sätze. Nie am
    Anfang oder am Ende eines Satzes. Immer deutlich in
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