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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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wenig Wissenschaftlerin. Auf jeden Fall zu wenig Historikerin. Noch glaube sie an das Leben, und wo es in der Geschichte verschwinde, interessiere es sie nicht mehr. Erst wenn die Geschichte im Leben verschwinde, erwache ihr Interesse. Es war mir eine Ehre, Herr Krall. Die Großtante wartet, zum Glück. Und sie gleißt
    vor Pedanterie. Sonst könnte ich doch gar nicht gehen.
    Gestehe ich. Freimütig. Im Namen La Mettries.
    Sie standen noch immer in der geöffneten Tür, Gottlieb
    drückte ihre kleine Hand, drückte sie ein bißchen mehr, als er wollte, sie ging auf die andere Straßenseite, da stand das Auto der Großtante, ein mittlerer Mercedes, sie stieg ein, öffnete das Fenster, winkte herüber, fuhr ab, aber im Davon-fahren streckte sie den Arm heraus und winkte noch einmal.
    Gottlieb merkte, daß er ihren letzten Blick, ihren letzten Gesichtsausdruck, nicht loswurde. Ein vorwurfsvoll geschürzter Mund. Das hieß wahrscheinlich: So trübsinnig wie
    Sie steht man nicht in der Welt, wenn man La Mettrie intus
    hat. Dieser Vorwurfsmund wurde unterstützt durch das
    massive Augenblau. Er forschte geradezu, ob in den Augen nicht auch eine Leidensahnung mitwirke. Und entdeckte
    nichts. Nur Lebensfreude, Wissenschaftslaune, Übermut.
    Gottlieb fühlte sich wie ein Patient, bei dem die Betäubung nicht funktioniert. Man hat ihm doch versprochen, er werde
    von der Operation nichts spüren, und jetzt, die Operation in
    vollem Gang und er erwacht aus der Betäubung. Gerade daß

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    er es noch schaffte, den Schrei zu unterdrücken. Er rannte ins
    Haus, rannte durch das Haus, hinaus auf die Terrasse, setzte
    sich auf den Platz, auf dem sie gesessen hatte, und schenkte
    sich einen Calvados ein. Was sind das für tönerne Begeg-nungen. Man spricht mit einander, um nichts zu sagen. Das
    Wichtigste wäre gewesen, dieser Besucherin zu sagen, was er
    in der vergangenen Nacht geträumt hatte. Geträumt hatte,
    weil er wußte, am nächsten Tag komme sie. Nein, bitte, das
    nicht. Das ist Traumdeutungsquatsch. Aber seinen Traum
    hätte er ihr servieren müssen. Ohne alle Anspielungsten‐
    denz. Nur daß sie gewußt hätte, mit wem sie am Tisch saß, diese übermütige Wissenschaftszicke. Aber so wie die Welt ist, war es undenkbar, daß er ihr diesen Traum servierte.
    Dafür Tarte Tatin, ungestürzt.
    Und war doch, bis zu ihrer Ankunft, herumgewatet im
    Gewölk dieses Traums. Eine Rechtsanwältin hatte ihn ver‐
    teidigt. Sie war nichts als jung. Brüste, die frech hinaussta-chen. Steile Spitzen sah er. Sie war überhaupt nicht angezogen wie eine Anwältin, sondern wie ein Mädchen. Anna
    war auch im Gerichtssaal. Es war im Saal nicht überall gleich
    hell. Er und das Anwaltsmädchen gaben einander Zeichen
    des Einverständnisses, aber so, daß es niemand bemerkte,
    weder Anna noch der Richter. Immer wieder mußte er
    versuchen, das Anwaltsmädchen zu berühren, sie weiter
    hinten im Saal in eine Bank zu ziehen. Es gelang auch diese
    und jene Berührung, aber beide wollten mehr beziehungs‐
    weise alles. Immer kam Anna dazu und zog etwas aus der Tasche, was im Augenblick für den Gang der Verhandlung
    wichtig war, Beweisstücke zu Gunsten ihres Mannes. Zum
    Beispiel einen blau und rot angemalten voluminösen

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    Schinken, der durch diese Bemalung märchenhaft schön
    aussah. Das Anwaltsmädchen rief: Jawohl, das ist die Ehe!
    Während sie das rief, preßte er sich von hinten an sie. Es mußte doch möglich sein, diese höchste Bereitschaft zweier Menschen in eine Wirklichkeit zu überführen. Aber obwohl
    er immer kühnere Zugriffe probierte, auch solche, die Anna
    brüskierten, beleidigten, blamierten und sie sogar aus dem Gerichtssaal jagten, es gelang ihm nichts. Er rannte Anna nach, redete sich im Hinausrennen ein, daß er das
    Anwaltsmädchen überschätze. Aber wo war Anna? Ihn
    schüttelte eine furchtbare Angst. Er wachte auf. Und sah das
    Anwaltsmädchen vor sich. Als wäre sie da. Sie war aber
    nicht da. Aber er sah doch ihre lockere Oberlippe, die
    gekräuselten Haare bis zur Ohrmitte, dann den langen
    nackten Hals. Wie sollte er da weiterleben? Was für eine Fehlentwicklung ist der Mensch. Er würde das Leben
    boykottieren. Diesen Schmerz, nein danke, das läßt er sich nicht gefallen. Gäbe es ein Jenseits, könnte er sich umbringen. In der Hoffnung, das Anwaltsmädchen erwarte ihn
    dort. Aber es gibt nichts. Dort nichts. Hier nichts. Nirgends nichts. Er hatte Anna den ganzen Tag lang nicht sagen, nicht
    verzeihen
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