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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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Menschen, der je geliebt hat.
    Gottlieb hatte Angst. Nachts fühlte sich seine Angst an wie
    eine große Geschwindigkeit, die einem den Atem verschlägt.
    Möglich, daß Anna nichts wußte von dem, was in ihm tobte.
    Ja, tobte. Selbst wenn Anna alles wüßte, wüßte sie nichts.

    243
    Aber gestern kam sie, blieb in der Türöffnung stehen, bis er
    zugab, daß er sie bemerkt hatte, hielt ihm beide Hände hin,
    in jeder Hand eine Kammhälfte. Er mußte ergänzen: Ihr war
    beim Kämmen der Kamm gebrochen. Aber weil er nichts
    sagte, mußte sie sagen, was er hätte sagen sollen. Was
    bedeutet das? Sagte sie. Und er hatte nur das Gesicht
    verziehen können, eine Schmerzgrimasse produzieren. Er
    konnte einfach nicht sagen, was sie, ohne daß er es sagte, wissen mußte. Und das, was er nicht sagen konnte, wuchs und wurde je länger um so unaussprechbarer.
    Aber auch wenn er Mr. Hyatt wäre, Anna war nicht be‐
    wußtlos. Er hatte Angst. Und es ewig auf den Evolutionspfusch schieben, half auch nichts. Er hatte Angst. Innen und
    außen, so unvereinbar wie noch nie. Er konnte nicht mehr liegen. Wie er sich auch zu legen versuchte, es gelang kein Liegenbleiben. Also stand er nachts auf, ging hinunter, setzte
    sich in seinen Schreibtischstuhl und starrte. Wenn die
    Unmöglichkeiten zu grell wurden, flüchtete er aufs Papier.
    Das tat er auch jetzt. So schrieb er sich hin:

    Morgen geh ich, fahr ich,
    morgen bin ich nicht mehr,
    wenn gefragt wird, ob ich,
    bin ich nicht mehr,
    falls gefragt wird, hier.

    Dann kam der Brief. Es gibt noch schöne deutsche Wörter, auch neuere. Luftpost. Und wenn sie dann auch noch aus
    Chapel Hill kommt. Einen schöneren Ortsnamen als Chapel
    Hill kann es nicht geben. Er flog dem Luftpostbrief entgegen,

    244
    riß das Kuvert auf, spürte schon den Inhalt, kein Briefpapier,
    ein festlicher goldgeränderter Karton:

    We were married
    on April 23, 2001.

    Beate J. Gutbrod
    and
    Dr. Rick W. Hardy

    4.

    Der See machte auf sich aufmerksam. Er rauschte. Zu‐
    dringlich laut, als wolle er unüberhörbar sein. Man schaut hinunter und sieht ihn, wie er heftig vorbeischiebt, als wäre
    er ein Fluß. Von Westen nach Osten schob er heute seine grellgrünen Massen. Seine in der Sonne gleißenden Wellen.
    Grüngold gleißend. Und immer wieder weiß brechend. Das
    sagte dem Segler, daß der Wind auf Stärke fünf zuging.
    Gottlieb schaute von der Terrasse aus zu. Er hatte sich auf
    den Platz der Besucherin gesetzt. Dolphins mating, dachte Gottlieb. Und rannte hinunter. Von weit draußen hörte er Segel knattern, bevor sie beim Wenden Wind faßten und in die neue Richtung schlugen. Ohne diese Signale der brau-senden Bäume und des im Aprilsturm rauschenden Sees
    wäre er wahrscheinlich nicht hinuntergerannt.
    Der Wind hat für Bläue gesorgt, die Sonne prahlt, als habe
    sie das geschafft. Und jagt den Mond vom Himmel.

    245
    Gottlieb hörte dem nichtssagenden Rauschen zu. Und
    fühlte sich informiert. Brausender, gleißender Apriltag.
    Weder warm noch kalt. Nur brausend. NIOBE steckte noch
    in ihren Winterhüllen. Er befreite sie, räumte das ange‐
    schwemmte Holz vom Schienenweg, dann ging er hinauf,
    zog sich um, kochte, Zucchini indisch, wartete auf Anna. Sie
    aßen so stumm, wie das üblich war. Seine Zucchini lobte sie.
    Zum Kaffee servierte er ihr Calvados, aber sich auch. Anna staunte und sagte: Unglaublich. Was? Fragte er. Was dir alles
    einfällt. Sie wies auf seine Segelkleidung. Wenn du dich beeilst, darfst du mit, sagte er. Schau doch, und wies hin auf
    Wind, Wellen, Glanz und Brausen. Oder ob sie heute
    nachmittag nicht frei nehmen könne? Dann müsse er allein starten. Wäre aber schade. Das Wetter reicht für zwei, sagte
    er. Also, sagte er, höchste Zeit. Komm oder komm nicht. Daß
    er, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hastig wurde,
    war sie gewohnt. Das rechnete sie zu seinen unbehebbaren Kindlichkeiten. Er will etwas, dann aber gleich.
    Auf der NIOBE begrüßte er sie dann wie immer, das heißt,
    so wie der Kapitän eines Transatlantikkurses die an Bord gekommenen Gäste begrüßt.
    Da fiel ihm ein: Er hatte die Schwimmwesten vergessen.
    Also hinauf ins Haus und in den Keller und zurück. Er warf
    die Westen Anna zu, daß sie sie verstaue. Er löste die Leinen,
    mit denen der Bootswagen vertäut war, ließ die NIOBE auf dem Wagen ins Wasser gleiten, bis sie sich vom Wagen
    abhob und schwamm. Wie beim Stapellauf. Anna hatte
    immer noch die Schwimmwesten in den Händen, als
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