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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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der schuld war oder dem
    sie das verdankte. Dann das Ausleben einer gemeinsamen
    Befallenheit. Er war jetzt allein. Das war zumutbar. Wenn er
    nur wirklich allein gewesen wäre. Wenn er nicht alles, was in
    ihm geschah, hätte weitersagen müssen. Anna war das
    Problem, nicht Beate. Vierzig Jahre, bitte, von ihm aus auch fünfzig oder sechzig. Solange er mit sich allein war, ertrug er
    alles. Aber daß es von ihm erwartet, ja verlangt werden konnte, so etwas einem zweiten Menschen, und sei es Anna,
    verständlich zu machen, das erbitterte ihn. Ohne zu lügen ging da nichts. Irgendwann hatte das gewöhnliche Lügen
    aufgehört. Das Leben war mitteilbar geworden, Anna und er
    waren ein Paar, enger bei einander, glaubten sie, als alle, die
    sie kannten. Anna hatte eine Stimmung entstehen lassen −
    und er hatte zugestimmt −, eine Stimmung des Alleshinter-sichhabens. Ihnen konnte nichts mehr passieren. Ihnen
    passierte auch nichts mehr. Ihm passierte nichts mehr. Es durfte nur nicht erwartet, ja verlangt werden, daß er, was ihm nicht passierte, in jeder Sekunde aufsage, vor ihr
    aufsage. Für sich sein. Für sich sein dürfen. Deine Stimmung
    empfinden dürfen, wie du sie jetzt, gerade jetzt, empfindest.
    Sie nicht übersetzen müssen ins Erträgliche, gar für den anderen Erträgliche. Eine Drecksstimmung eine Drecksstimmung sein lassen. Sagen dürfen, nein, denken dürfen:

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    Du gehst mit deinem Pech ins Bett und du knurrst nicht. Du
    gehst mit deinem Pech ins Bett und du knurrst nicht. Aber du mußt es denken dürfen. Die ganze Nacht mußt du
    denken dürfen: Du gehst mit deinem Pech ins Bett und du knurrst nicht. Wenn du das nicht denken darfst, knurrst du.
    Als Anna sich im Schrankzimmer auszog und dann, ohne
    das Licht anzumachen, ins Schlafzimmer kam, spielte er den
    Schlafenden. Wahrscheinlich würde sie ihm morgen sagen,
    sie habe natürlich gemerkt, daß er nicht geschlafen habe. Oft
    genug wurde heiter darüber gestritten, wer zuerst wirklich eingeschlafen sei und wer nur so getan habe, als sei er eingeschlafen, um dadurch dem anderen das Einschlafen zu
    erleichtern. Aber nach dieser Nacht würde keiner dem
    anderen nachweisen können, der habe durch solche und
    solche Atemzüge oder Laute eindeutig verraten, daß er eingeschlafen sei, während man selber noch hellwach gelegen
    habe. Anna sorgte für etwas Neues. Sie schlug ihre Decke zurück, schrie schrill Naiiinnn, Gottlieb fuhr hoch, konnte vorerst nicht mehr atmen, so schnürte ihn der Schrecken. Sie
    zeigte in ihr Bett. Da lag ein Messer. Ein Küchenmesser. Das
    große Fleischmesser. Lang und spitz und gebogen und
    scharf. Ach ja, sagte sie, ich soll mich also ins Messer legen.
    Irgendeinmal früher hätte er jetzt beteuert, das Messer
    nicht in ihr Bett gelegt zu haben. Er hielt es für einen Fortschritt, daß er nur sagte: Ach, Anna, und sich wegdrehte. Das
    mußte sie mit sich selber klären. Zu ihrer Art ausdrucks-sicherer Geistesabwesenheit würde es passen, daß sie das
    Messer in ihr Bett gelegt hatte. Höhere Geistesabwesenheit müßte man das nennen. Was sie in solchen Augenblicken tat,
    hatte immer Bedeutung. Zu schwören, es nicht getan zu

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    haben, würde ihre Behauptungsenergie nur steigern. Sie sich
    selbst überlassen, das war zwar grausam, und sie tat ihm leid, aber er kam sich erschöpft vor. Er wußte, wie sie einander in ein Satzgetöse hineingesteigert hätten, in dem beide gleichermaßen verwundet geendet hätten. Das war
    einmal. Schön, daß sie diese Routine hinter sich hatten. Daß
    Anna nur noch halblaute, auf Unverständlichkeit angelegte
    Sätze murrte, zeigte ihm, daß sie, auch wenn sie es
    fertigbrachte zu glauben, er habe ihr das Messer ins Bett gelegt, auf den Sprechstreit verzichten konnte.
    Ihn stimmte, was sie getan hatte, zärtlich. Obwohl sie doch
    so gut wie nichts mitgekriegt haben konnte, hatte sie vollkommen genau reagiert. Sich das größtmögliche Messer ins
    Bett legen. Genauer konnte man, was heute passiert war,
    nicht ausdrücken. Auch die Sinnlosigkeit, Folgenlosigkeit
    und Unwirklichkeit des heute Passierten konnte man nicht
    genauer ausdrücken als durch ein möglichst großes Messer, das zwar in ihrem Bett liegt, aber überhaupt keinen Schaden
    anrichten kann.
    Am nächsten Morgen suchte Gottlieb zuerst im Tele‐
    phonbuch, ob in Langenargen Gutbrod vorkomme. Nein.
    Dann ging er ans Klavier und schlug die Töne b‐e‐a‐d‐e an.
    Dann, an seinem Schreibtisch, versuchte er ihre Schuhe zu
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