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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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eine
    Schwimmweste um. Hineinschlüpfen geht nicht. Er hievt sie
    über Bord, läßt sie los und springt sofort neben ihr ins 39
    Wasser, hat sie im Griff, bevor sie sinken kann. Vor tausend
    Jahren hat er den DLRG‐Schein gemacht. Endlich eine Praxis.
    Mit beiden Händen von hinten ihr unters Kinn. In
    Rückenlage schwimmend, sie auf ihm. Das geht. Die ihr um
    die Taille gebundene Schwimmweste hilft. Er muß nur den
    Oberkörper über Wasser halten. Leicht ist es nicht. Immer wieder drückt ihr Gewicht ihm den Kopf unters Wasser. Das
    Wasser dringt durch die Nase in den Rachen. In die
    Luftröhre. Er hustet es heraus. Er kriegt keine Luft mehr. Er
    reckt den Kopf an Annas Kopf vorbei in die Höhe. Dadurch
    gerät Annas Kopf ins Wasser. Das Wasser schlägt über ihnen
    zusammen. Die Wellen. Der erste Blitz. Die Wetterwand ist heran. Ein nicht sofort knallender Donner. Zurück zur
    N I OB E. Die schwankt. Und sinkt. Der Mast schlägt wild durch die Luft, als rufe er um Hilfe. Gleich werden die Wellen hineinschlagen. Unter der Wucht der Wellen
    schwappt das Wasser im Boot hin und her. Die NIOBE legt sich auf die Seite. Sie versinkt. Es bleibt nur der Bodanrück.
    Daß es nahezu dunkel ist, tut gut. Sie sind ohnehin mehr unter als über dem Wasser. Er kann Annas Kopf über den Wasserspiegel stemmen, aber dadurch drückt es ihn selber
    unters Wasser. Untergehen? Noch einmal alles von vorn,
    Anna. Sich unter sie bringen, sie auf ihn, dann ruhige
    Schwimmbewegungen. Aber sie ist zu schwer. Die Wellen
    schlagen über ihnen zusammen. Er wird das nicht schaffen.
    Anna. Dann. Dann, Anna, dann zusammen. Er hätte ihr die
    Schwimmweste richtig anziehen sollen. Verdoppeln. Die
    Beinarbeit verdoppeln, verdoppeln, verdoppeln. Dann bleibt
    dein Kopf über Wasser. Und er verdoppelt. Eines ist ganz sicher, dieser Schmerz vom Verdoppeln der Beinarbeit, den 40
    hält er aus, den hält er leicht aus, den hält er ewig aus. Wenn
    etwas unvorstellbar ist, dann das Nachlassen seiner Kraft, die Verlangsamung der Beinarbeit. Anna, hörst du? Annas
    Kopf hochhalten, du unter Wasser, du brauchst keine Luft mehr, dir genügt die Zehntelsekunde zum Luftschnappen,
    Annas Kopf muß droben bleiben, die Wellen brechen sich an
    ihrem Kopf, die Blitze sind doch belebend, der Donner auch,
    alles hilft, deine Beinarbeit zu verdoppeln, nichts als verdoppeln, und Annas Kopf hinaufstemmen und nach Luft
    schnappen und die Beinarbeit verdoppeln. Dann tasten, gibt
    es schon Grund, die Tannen schwanken, stürmische Begrü‐
    ßung, Gottlieb, das sind die immer ins Wasser reichenden Bodanrücktannen, du hast Grund unter den Füßen. Jetzt
    schleif sie, schlepp sie hinauf und leg sie dem Wald zu Füßen. Als hätte sie darauf gewartet, öffnet sie die Augen.
    Aber gleich fallen sie ihr wieder zu. Es war ein Blick, den du
    nicht verstehst. Ein Blick, der nicht dir galt. Ein mit nichts rechnender Blick. Und hustet. Endlich hustet sie. Hustet und
    spuckt. Spuckt Wasser. Und er keucht. Hechelt. Wie ein
    Hund. Ganz kurz und ganz schnell. Er ringt nach Luft. Er kriegt noch lange nicht soviel Luft, wie er brauchte. Und sie
    spuckt Wasser. Und er wird ewig nach Luft ringen. Nie mehr
    wird er soviel Luft kriegen, wie er brauchte.
    Anna hob ihr Gläschen, wartete, bis er seins auch hob. Na
    dann, zum Wohl, sagte sie und er sagte, ein bißchen
    verspätet, zum Wohl. Weißt du was, sagte sie. Wie sollte ich,
    sagte er. NIOBE wartet, sagte sie. Er konnte nur schauen.
    N I OB E, sagte sie noch einmal. Wir waren seit zwölf Tagen nicht auf dem Wasser. Stimmt, sagte er. Also, sagte sie. Er tat, als schaue er nach dem Wetter, schüttelte den Kopf.

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    Vorwarnung, sagte er. In einer halben Stunde kocht der See.
    Schade, sagte sie, ihr sei heute so nach Segeln. Und streckte
    und dehnte sich. Gottlieb sagte: Mir auch. Aber, sagte er, fügen wir uns. Abgesehen davon, übermorgen sei die
    zweimal verlängerte Frist für die Steuererklärung abge‐
    laufen, und er sei noch mitten drin. Und stand auf und ging
    zu Anna hin und zog sie hoch und legte seine Arme um sie
    und sagte: Er habe sie noch nie so geliebt wie in diesem Augenblick. In diesem Augenblick, sagte sie, wieso denn
    das. Es ist der Augenblick der Liebe, sagte er. Verstehst du?
    Nein, sagte sie. Gut, sagte er, küßte sie überall hin, nur nicht auf den Mund, und ging hinein, an seinen Schreibtisch, auf dem die Papiere für die Steuererklärung, übersichtlich
    geordnet, auf ihn warteten.
    Aber bevor er anfangen konnte,
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