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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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habe
    sie vergessen, wo die zu verstauen seien. Er rief ihr zu: In der Kajüte! Sie rief zurück: Sie könne erst in die Kajüte, wenn sie

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    draußen seien. Er rief zurück: Platzangst, ja! Da er schon dabei war, das Großsegel hochzuziehen und der Wind sofort
    in das noch nicht belegte Segel schlug, hatte Anna wohl nicht
    verstanden, was er gesagt hatte. Aber bei den Sätzen, die gewöhnlich zwischen Eheleuten hin‐ und hergehen, fragt
    man, wenn man einmal einen Satz nicht verstanden hat,
    nicht nach. Es wird sich schon nicht um etwas Wichtiges gehandelt haben.
    NIOBE war luvgierig. Gottlieb auch. Diese Seglerillusion,
    daß du nicht nur hin und her geworfen wirst, sondern durch
    kundige Vermittlung zwischen Wind, Segel und Ruder
    selber bestimmen kannst, wohin du mit diesem und jenem
    Wind zu kommen gedenkst. Sie schossen hinaus.
    Anna sah, daß sie gebraucht wurde. Gottlieb warf ihr die Vorschot zu. Dann aber ließ der gerade noch zupackende
    Wind plötzlich nach, als habe er es sich anders überlegt.
    Weithin schlafften die geblähten Segel ab, die Boote tau-melten in die Windstille. Gottlieb hatte in der Tasche, die er
    mit aufs Boot nahm, immer ein Buch. Mit plötzlichen Flauten
    war hier zu rechnen. Gottlieb nannte dieses Aufbrausen und
    dann gleich wieder Abflauen die pubertäre Macke des Sees.
    Er gehörte nicht zu den Seglern, die dann auf dem Vordeck
    liegen und dösen. In LʹHomme Machine gab es eine Stelle über Pascal. An die hatte er gedacht, als er den Luftpostbrief geöffnet gehabt hatte. Die hatte er herausgesucht, um sie vorerst immer dabei zu haben. Auch an Bord. Gerade an
    Bord. Die brauchte er jetzt. La Mettrie hatte, was Gottlieb brauchte, in einer Fußnote untergebracht. Er fand die Stelle beim Durchblättern sehr schnell. Anna lag auf dem Vordeck
    und döste. Gottlieb las, was La Mettrie über Pascal meldete:

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    Wenn man redend herumsaß oder beim Essen, mußte er links von sich immer einen Schutzwall aus Stühlen oder einen Nachbarn haben, nur daß er nicht in die entsetzlichen Abgründe sehe, in die zu stürzen er immer wieder befürchten mußte, wohl wissend, daß das Einbildungen waren. Gottlieb fühlte, wie Pascal ihn anzog.
    Er war La Mettrie dankbar für diese Mitteilung. Und merkte,
    daß Pascal ihn in diesem Augenblick ganz und gar wegzog von La Mettrie. Daß Pascal Stühle oder Menschen oder
    Stühle und Menschen brauchte, du côté gauche brauchte er die, pour lʹempêcher de voir des Abîmes épouvantables dans lesquels il craignoit quelque fois de tomber! Gottlieb fühlte sich entdeckt. Von Pascal.

    Das Wetter wollte seine souveräne Launenhaftigkeit de‐
    monstrieren, schickte eine Mütze voll Wind, mit der heimzukommen war. Als sie auf der schattigen Terrasse ihren
    Kaffee tranken, und zwar ohne Calvados, sagte Gottlieb, er möchte Anna jetzt gern das SIE anbieten. Und sagte gleich dazu, daß Anna jetzt, bitte, nicht mit Unbelievable reagieren
    sollte. Sie sollte, sagte er, so tun, als könne sie sein Angebot ernst nehmen. Vielleicht könnten sie einander ja kennen-lernen. Anna bot ihren unergründlichen Blick an und sagte: Herr Zürn oder Herr Krall, wie hätten Sieʹs gern? Gottlieb sagte: In welche Sauce wir den Daumen, den wir lutschen müssen, vorher tunken, ist egal. Oder nicht? Und Anna: Es gibt nichts, wofür man nicht bestraft werden kann. Und
    Gottlieb: Aber die Möglichkeiten klirren. Und Anna: Wenn
    Sie so wollen. Und Gottlieb: Ich will.

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