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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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ameri‐
    kanischer Routine, also ohne privaten Anteil. Beate? Ob er diesen Namen erlernen könnte? Jetzt spielte er den, der die Uferstraße auf und ab schlendert. Der schwarze Mercedes
    mußte inzwischen in Bad Schachen stehen. Auf keinem
    Schild der Name Gutbrod. Er hätte im Telephonbuch nach
    dem Namen suchen sollen. Anrufen. Was dann sagen?
    Vielleicht war der Großonkel am Apparat. Die Welt war eine
    Verschwörung. Alles setzte sich durch gegen ihn. Er durfte nichts unternehmen, sich durchzusetzen. Was er wollte, war
    so wenig möglich, so wenig erlaubt, daß er nicht den
    geringsten Versuch machen durfte, seinen Willen durchzu‐

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    setzen. Bitte, was wollte er denn? Schon das zu formulieren
    war unmöglich.
    Das einzige, was ihn jetzt sich selber fühlbar machte, war seine Einsamkeit. Niemand wußte in diesem Augenblick, wo
    er war, was er dachte. Was er wollte, wußte er nicht einmal
    selbst. Es mußte ja etwas sein, was er wollen konnte. Beate Gutbrod am Telephon, wollte er das? Die einzige Frage, die
    er stellen müßte, wäre: Sind es tatsächlich vierzig Jahre?
    Schon achtunddreißig wäre eine Zahl, die er gern nachge‐
    betet hätte. Nur nicht vierzig, bitte. Anna hatte instinktiv die unangenehmste Zahl genannt. Vierzig Jahre, das konnte man
    wirklich auf sich beruhen lassen. Aber Beate Gutbrod lehrt immerhin schon. Teaching Assistant. Und Beate Gutbrod
    war keineswegs die jedes Problem frontal angehende
    Intellektuelle. Sie erlebte jede Frage, bevor sie sie löste. Sie rief alles, was sie im Computer hatte, auf und herbei und ließ
    es vor Gottlieb paradieren. Der staunte. Den 250. Todestag des frechen Genies hatte sie also zum Prüfdatum ernannt.
    Immerhin konnte sie ausgehen von der Gedächtnisrede, die
    der Große Friedrich auf La Mettrie verfaßt hatte und in der Akademie der Wissenschaften verlesen ließ. Das war die
    erste Rezeption in Deutschland. Wenn auch, weil dem
    Großen Friedrich das französische Sprachcostume lieber war,
    auf Französisch.
    Anna sagt Vierzig Jahre, und er rennt los und kämpft
    gegen die Windmühle namens Vierzig. Und wenn es dreißig,
    zwanzig oder zehn Jahre wären − was würde das an der
    Entfernung zu der Besucherin ändern? Nichts. Sie kann
    verlobtverheiratetverliebt und sonst was sein. Vielleicht läßt
    sich ihretwegen der Professor gerade scheiden. Sie tele‐

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    phoniert, solange sie unterwegs ist, jede Nacht eine Stunde mit ihm. Und ihn hetzt Anna mit einer Zahl auf die
    Unmöglichkeitsstrecke, nicht ahnend, daß Gottlieb sich diese
    Sorte von Unmöglichkeit nicht gefallen läßt. Man kennt
    einander, wenn es darauf ankommt, nicht. Etwas Aussichts‐
    loses dieser Art, das kann er sich nicht gefallen lassen, da geht er die lange, lange Uferstraße hinaus nach Westen und
    wieder zurück, bis er jedes Haus auf der Landseite zweimal
    angeschaut hat. Der Altimmobilienhändler prüft und prüft.
    Fast glücklich. Er folgt einer Notwendigkeit, er will jetzt nichts als Langenargener Häuser auf der Landseite der
    Uferstraße anschauen. Jedes Haus kann es sein. Aus jedem Haus kann sie schauen. Auf jedem Balkon sitzen. Also mehr
    muß doch nicht sein als eine solche Betäubung der Aus‐
    sichtslosigkeit. Dieses Erlebnis der reinen Notwendigkeit:
    Geh und schau und schau. Und schau noch einmal. Du
    fieberst vielleicht. Aber du schaust.
    Und fuhr zurück. Erfüllt, fand er, von einer überirdischen Müdigkeit.
    Zu Hause schlich er sich ins Haus und ins Bett. Anna sah noch fern, also hörte sie ihn nicht kommen. Als er im Bett lag, versuchte er, etwas zu denken, was nicht zu Beate
    Gutbrod führte. Als das nicht gelingen wollte, probierte er, was in ihrem Namen als Noten vorhanden war, zu summen
    oder leise zu singen: B‐e‐a‐e. Also Bea könnte er sie nennen.
    Oder das t zum d machen, dann klingt es so: B‐e‐a‐d‐e. Das
    letzte e wie das erste. Da fiel ihm Brahms ein, der wollte eine
    Agathe in Musik verwandeln und komponierte einen inni‐
    gen Ruf aus a‐g‐a − h‐e. Gottlieb hätte die Innigkeitssignale,
    seins und das von Brahms, jetzt gern auf dem Klavier mit 31
    einander verglichen, aber das Klavier stand im selben Zimmer wie der Fernseher. Er würde sich nicht wehren. Selbst die Wunde namens Gabriele hatte sich eines Tages geschlossen angefühlt. Und das war ... nein, keine Vergleiche. Damals
    waren in acht Tagen sechzehn Briefe eingetroffen. Eine
    heftige Theologin war vom La Mettrie‐Fieber befallen
    worden und mußte das dem sagen,
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