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Der Augenblick der Liebe

Der Augenblick der Liebe

Titel: Der Augenblick der Liebe
Autoren: Martin Walser
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nicht.
    Erstens fand sieʹs schon mal unmöglich, mit einer Begabung
    Geld zu verdienen. Da wirkte die Theologin nach. Dann der
    jeden Orgelton überflutende Nachhall in den Kirchen, den

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    sie auch durch sorgsamste Belegung der Bänke mit Polstern
    von zwölf Sekunden nicht weiter als auf sieben schwächen konnte. Schließlich konnte sie Sterben mein Gewinn und dergleichen einfach nicht mehr spielen, ohne zu grinsen.
    Also in die Politik. Jetzt Landtagsabgeordnete. Verheiratet.
    Geschieden. Ganz bei den Grünen.
    Anna hatte sich, als diese Erschütterung verebbt war, die Haare, die bis auf die Schultern reichenden, so abschneiden lassen, daß die Ohren ins Freie standen, hatte gesagt, das sei
    jetzt der Abschied gewesen von allen möglichen Einbildun‐
    gen. Und hatte den Umsatz verfünffacht. Und hatte ange‐
    fangen, jeden Abschluß zur theatralischen Zeremonie zu
    machen. Sie wurde bekannt für ihre Kostümansprüche. Viel
    weniger als ein Hochzeitsniveau durfte es, wennʹs zum
    Notar ging, nicht sein. Sie selber trug nur noch Anzüge.
    Dunkle. Am liebsten Nadelstreifen. Und die Feierlichkeit
    jeder Prozedur wurde mit Calvados eingesegnet. Sie glaubte
    inzwischen selber an die Mär, die sie verbreitete: Bei
    Calvados geschlossene Verträge halten. Ach, Anna, du liebe
    Lebenslängliche. Sie hatten ohne Calvados geheiratet. Und
    hatten doch die Zeit der Stürme überstanden.
    Aber daß eine Besucherin an dem Tag auf ihn einredete,
    den Gabriele zum La Mettrie‐Gottlieb‐Gedenktag erhoben
    hatte, bewies wieder, was er längst wußte: Es gibt keine Zufälle. Was man für Zufall hält, ist immer eine noch nicht erkannte Gesetzmäßigkeit. Sollte er der Besucherin eigentlich
    sagen, welchen Tag sie sich ausgesucht hatte? Das würde
    allerdings ihr Duett mit einer Schicksalswucht aufladen, der
    sie, beide, nicht entsprechen konnten. In zwei Stunden wür‐
    de sie gehen. Aufnichtmehrwiedersehen. Zurückbleiben wür‐

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    de die Sonnenblume. Er wußte plötzlich, was die Sonnen‐
    blume wollte. Herrschen. Nein, die wollte nicht herrschen, die herrschte. Duldete nichts neben sich. Gottlieb sagte: Diese Sonnenblume. Und die Besucherin: Ja? Und Gottlieb:
    Unglaublich. Die Besucherin lachte laut auf. Das sei offenbar
    das Lieblingswort in dieser Familie. Gottlieb dachte: Die ist ziemlich wach.
    Warum haben Sie nicht weitergemacht, Herr Zürn? Mit La
    Mettrie? Das fragte sie vorwurfsvoll. Sie wollte sich offenbar
    hineinsteigern. Gottlieb kannte das. Dem anderen zuliebe so
    tun, als könne man sich nicht mehr fassen vor Angetansein.
    In diesem Fall von La Mettrie und einem von La Mettrie heftig belebten Gottlieb Zürn. Und dann auf einmal gar
    nichts mehr. Warumwarumwarum, Herr Zürn! Sie sah ihn
    an, als wisse sie, warum, wolle es aber von Herrn Zürn hören. Da sie einander im Namen La Mettries gegenüber-saßen, konnte das damalige Nichtmehrweitermachen nur
    mit Herrn Zürns Gefühlswelt zu tun haben. Und das wollte
    sie wissen. Aus wissenschaftlicher Neugier. Sie machte es glaubhaft klar. La Mettrie fordert den ganzen Menschen.
    Wenn sie beschreiben will, warum La Mettrie in Deutschland
    so zögerlich aufgenommen wurde und wird, dann kann sie
    das, sagte sie, am genauesten an einzelnen Erfahrungsbei‐
    spielen darstellen. Sie vermute, Resignation sei das Motiv, das persönliche und das gesamtgesellschaftliche, also
    nationale. In der DDR noch eine kleinmütige, halbherzige
    Pflege, weil La Mettrie viel zu lebendig, viel zu naturtreu und, trotz aller materialistischen, antimetaphysischen Leidenschaft, eben überhaupt nicht klassenkämpferisch aus‐

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    beutbar gewesen sei. Und im Westen? Dann, exemplarisch,
    bei Wendelin Krall alias Zürn?
    Gottlieb hätte ihr sagen müssen: Als es erlosch, das Gabriele‐Gottlieb‐Feuer, da erlosch auch − in Gottlieb − das La Mettrie‐Feuer. Er hatte die Nase voll vom Leben beziehungsweise von der Natur. Er war überhaupt nicht mehr
    verständnissüchtig, wißbegierig.
    Anna hatte nach dem Abschied von allen möglichen
    Einbildungen ihren Beruf zur Raserei entwickelt. Gottlieb
    war einfach versunken. Senkrecht hinab. Wenn es Scheintod
    gibt, muß es auch Scheinleben geben. So empfand er, dachte
    er. Aber die Besucherin sprudelte. Ihr Mund wogte, als habe
    er Wehen. Sie sah ihn an. Ein starker Blick, dachte Gottlieb.
    Dieses geradezu massive Blau. Dieser Blick meinte andau‐
    ernd etwas. Annas Blick war die bedeutungsabweisende
    Meeresweite schlechthin. Die Augen der
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