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Der Aufgang Des Abendlandes

Titel: Der Aufgang Des Abendlandes
Autoren: Karl Bleibtreu
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im Wege stehende Ungleichheit aus der Welt zu schaffen. Der Streit, ob
erworbene Eigenschaften vererbbar oder nicht, verrät die innere Unsicherheit, denn erkenntnistheoretisch besteht
überhaupt keine Verschiedenheit von Vererbtem und Erworbenem, da alles, was Eigenart kennzeichnet, nur
»erworben« sein kann durch Karmafügung. Selbst Spezialanlage eines bestimmten Berufstrebens durch erworbene
Familienanpassung vererbt sich äußerst selten. Darwins Großvater und die drei Maler Vernet dürften wohl
das einzige bekannte Beispiel sein. Genie vollends vererbt sich weder, noch wird es geerbt. Keiner wird je ergründen,
wie Napoleon, Cromwell, Byron, Leonardo oder Proletarier wie Luther, Fichte, Kant, Petöfi, Burns, Faraday, Keats,
Dickens aus so unbedeutender Abstammung unvermittelt hervorgingen. So steht es bei allen Bedeutenden.
    Frau Rat gebar nicht den Faust, der schlaue Philipp und die wüste Olympias produzierten gewiß nicht die
poetische Genieromantik Alexanders. Der Gründer des Preußentums bot den schreiendsten Gegensatz zu seinem elenden
Papa und der schöngeistigen Mama, seine Tochter Wilhelmine malt ihn in ihrer Menagerie fürstlicher Paviane und
Meerschweinchen nur als höheren Gorilla, und wenn sie einseitig übertreibt, so stimmt Treitschkes Verhimmelung des
rasenden Staats- und Haustyrannen gewiß nicht zum hysterisch-pathologischen Temperament dieses ins Deutschpedantische
übersetzten Peter der Große, dem die versöhnenden Züge des seltsamen russischen Gewaltmenschen mangeln.
Was außer zwangsweiser Anpassung an das überkommene Staatsmilieu Friedrich der Große von ihm und der
intriganten eitlen Mutter geerbt haben soll, wissen die Götter. Auch hilft hier der beliebte Biologensprung nach
rückwärts zu Großmutter und Urgroßvater nichts, denn hier könnten allenfalls Ansätze
geistiger Struktur übertragen sein, nie und nimmer aber ihre Verarbeitung zu einer völlig verschiedenen Eigenart
von unermeßlich höherem Umfang. Dagegen waltet freilich bei seinen und Napoleons Geschwistern anscheinend die
natürliche Vererbung, was den Geniefall erst recht unerklärlich macht, und Jesus weist Eltern und Brüder ab:
»Wer ist meine Mutter, wer sind meine Brüder?« Der heilige Geist senkt sich plötzlich auf ein Ich ganz
außer der Reihenfolge seines Geschlechts. Kaiser Titus war Sohn und Bruder schlechter Menschen. Die unzähligen
»übernatürlichen Phänomene« im genialen Menschen seit Sokrates' Dämon, der so sein
Unbewußtes personifizierte, sind so verbürgt, daß der Astronom Herschel, dem wir auch ein religiöses
Gedicht von tiefherzlicher Selbsterlebtheit verdanken, aussagte: »In unserem eigenen Organismus arbeitet eine
Intelligenz, verschieden von derjenigen unserer sonstigen Persönlichkeit.« Auch die plötzlichen Bekehrungen,
die »Metanoia« des alten Adam, die scheinbare Umkehr des innersten Menschen aus dem Unbewußten heraus, sind
spontane inkommensurable Größen, die weder mit Zweckmäßigkeit noch vorher unhörbaren Imperativen,
sondern nur durch das Karmagesetz erklärt werden können als Erwachen einer präexistenten Kausalität. Wie
unbedeutende und schlechte Eltern oft bedeutende und gute Kinder haben, so können bedeutende und gute Eltern oft
unbedeutende und schlechte Kinder haben, was bei Identität vom Physischen und Psychischen unmöglich wäre. Die
psychischen Eindrücke der Schwangerschaft können jede natürliche Vererbung selbst im zoologischen Sinne
umstoßen, z.B. ein schönes Gesicht von häßlichen Eltern stammen, wenn die Schwangere fortwährend
inbrünstig einen Apollo anschaute. Umgekehrt wirken ungünstige seelische Einflüsse: häßliche Kinder
schöner Eltern. Selbst jene Hypnose, die eine Masse selbstsüchtiger Einzelner gegenseitig mit Opfermut für
Religion, Vaterland, Befreiung ansteckt, beweist die Übermacht der »Ideen«. Das ästhetische
Bedürfnis, wahrscheinlich Urgrund des sittlich Schönen, wie denn Plato »schön und gut« zu einem
einzigen Doppelwort verband, steht als begehrungslose Freude ohne jede Beziehung zum materiell Zweckmäßigen,
hiermit aber außerhalb sinnlicher Mechanik. Wunschloses Anschauen der Welt in ästhetischem und sittlichem
Gefühl läßt sich als Ideenbildung nur mit Einwirkung der Äther-Weltvernunft zusammenreimen, nie mit
gleichmäßiger Zweckmäßigkeitsmechanik zur »Erhaltung der Art«. Denn jeder Idealismus
beeinträchtigt die Erhaltung des Ich und damit der Art im
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