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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition)
Autoren: Martin Clauß
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mit den nach allen Seiten abstehenden Locken wie einen hässlichen Geist hinter einer im Luftzug flackernden Kerze sitzen sah, dämmerte ihm, dass er diese Tasche und ihren Inhalt vielleicht nie an die Polizei würde weitergeben können. Irgendjemand würde ihn damit gesehen haben. Die Erde, die an ihr klebte, würde beweisen, dass er sie nicht einfach von der Straße aufgelesen haben konnte. Sie würde auf den Hinterhof verweisen, und dieser darauf, dass er gesehen hatte, wie der Fliehende sie dorthin geworfen hatte, und …
    „Mr. Sickert? Sind Sie das? Wieder einmal in London? Es ist lange her. Wir sind alle alt und grau geworden …“
    Die Frau, die das sagte, war schon vor zwanzig Jahren alt und grau gewesen, und sie schirmte ihr Gesicht von der Kerzenflamme ab, um ihn besser mustern zu können. Sah sie die Tasche? Sah sie den Schmutz darauf?
    Fünf Shilling und zwei Minuten später saß Walter Sickert auf einem Bett in einem der winzigen, kalten Räume. Kopfschüttelnd über die eigene Dummheit betrachtete er die Tasche. Es war mehr ein Sack, ein einfacher Beutel, dessen Öffnung mit einer Kordel zuzuziehen war. Vielleicht war es noch nicht zu spät, sie den Behörden zu übergeben. Noch hatte er sie nicht geöffnet. Noch hatte er nichts damit zu tun.
    Mit aufeinandergepressten Lippen löste er den Knoten, was angesichts der Nässe der Schnur einige Zeit in Anspruch nahm.
    Er leerte den Inhalt auf die flickenbesetzte Bettdecke und drehte die Lampe heller. Zwei in bunte, exotische Tücher eingeschlagene Gegenstände waren herausgefallen, einer davon größer und schwerer als der andere. Sickert packte den größeren zuerst aus und starrte auf eine Bibel, auf deren schwarzem Einband silberne Buchstaben prangten. Das Einschlagtuch, das offenbar aus einem südostasiatischen Land stammte, hatte die Feuchtigkeit des Regens aufgesogen, die der dünne Stoff der Tasche durchgelassen hatte, und so war die Heilige Schrift von der Nässe nicht erreicht worden.
    Walter Sickert hängte das Tuch zum Trocknen auf und legte die Bibel vorsichtig auf dem kleinen Tischchen neben der Lampe ab, nachdem er sie an mehreren Stellen aufgeschlagen und keine Besonderheiten daran entdeckt hatte.
    Offenbar handelte es sich bei dem zweiten Päckchen ebenfalls um ein Buch – so jedenfalls fühlte es sich an. Als er es ausgepackt hatte, hielt er ein dünnes Notizbuch in Händen, mit einem braunen, von der Nässe etwas aufgeweichten Einband. Bevor er es aufschlug, fragte er sich, was mittlerweile aus seinem Besitzer geworden war. War der Kirchenmann klug genug gewesen, in einer der belebteren Straßen Zuflucht zu suchen? War er vielleicht sogar auf dem Weg zu einer Polizeiwache gewesen und hatte lediglich eine Abkürzung dorthin genommen? Je mehr er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass der Geistliche tatsächlich den Schutz der Einsamkeit gesucht haben sollte. Was konnte schon schlimmer sein, als in einer der dunkelsten Gassen Londons mit einem geheimnisvollen Verfolger allein zu sein?
    Sickert legte das Notizbuch auf eine trockene Stelle der Bettdecke. Seine Kleider waren nass, und er erschrak, als ein Tropfen von seinen Haaren auf den Umschlag fiel.
    Langsam öffnete er das Buch und sah, dass etwa die Hälfte der Seiten beschrieben war. Die zweite Hälfte des Buches war weitgehend frei von Aufschrieben, nur an einigen Stellen fanden sich einige Kritzeleien, manchmal Zahlen, manchmal mehrfach nachgezogene geometrische Formen, wie man sie aufs Papier bringt, während die Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt sind. Die eine oder andere Zahl schien ein Datum darzustellen, einige weitere mochten auf Bibelstellen hindeuten. Bisweilen waren kleine Papierstücke eingeklebt, offenbar ausgeschnittene Zeitungsartikel. Das billige Papier war rascher vergilbt als das des Notizbuches, und die verblassten Lettern waren mit dem goldbraun verfärbten Papier verschmolzen.
    Die beschriebenen Seiten bildeten offenbar ein Tagebuch. Der erste Eintrag datierte vom 13. Juni 1888. Zwischen dem Umschlag und der ersten Seite lag ein Bündel eng beschriebener Blätter, die neuer wirkten als das Buch. Sie waren von eins bis neun durchnummeriert, und die erste Seite begann mit der Zeile: „15. August 1902, Mandalay, Burma“. Schimmelflecken bedeckten die Seiten des Buches, nicht aber die losen Blätter.
    Er legte das Tagebuch beiseite, schlüpfte aus seinen nassen Kleidern und kroch unter die Bettdecke. Die Schrift der Aufschriebe
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