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Der Atem des Rippers (German Edition)

Der Atem des Rippers (German Edition)

Titel: Der Atem des Rippers (German Edition)
Autoren: Martin Clauß
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ihren Ritualen, erfüllte sie mit ihren sanften, weisen Lehren und ließ wenig Platz für die Himmelssehnsüchte und Höllenängste, die die christliche Lehre in ihren einfachen Herzen zu wecken suchte.
    Einer der in Mandalay stationierten Missionare war Alan Spareborne. Er gehörte zu einer kleinen katholischen Gemeinde, die sich vor fünfzehn Jahren hier angesiedelt hatte und nicht mehr Erfolge verzeichnete als das beeindruckende Aufgebot anglikanischer Gottesdiener, das mit Leidenschaft, doch auf verlorenem Posten gegen die geduldigen buddhistischen Gebetsmühlen ankämpfte wie Don Quichote gegen die Windmühlenflügel.
    Alan Spareborne hatte vor kurzem eine Wohnung in einem der britischen Häuser bezogen und fühlte sich dort alles andere als wohl. Fast fünfzehn Jahre lang hatte er wie die Burmesen gewohnt, hatte mit ihnen gegessen und geredet, an ihrem Alltag und an ihren Feiern teilgenommen. Er wusste nicht, ob er ihnen so viel Segen und Glück hatte schenken können wie sie ihm, doch es war eine schöne Zeit gewesen, die schönste seines Lebens, und als man ihm nahe legte, sein Domizil in einem der wuchtigen Steinhäuser einzurichten, die europäische Architekten mit stolzgeschwellter Brust allerorten errichteten, war es, als ginge er einen Schritt zurück nach London. Die Leichtigkeit der letzten anderthalb Jahrzehnte drohte zu verfliegen wie ein Trugbild, das nie Wirklichkeit gewesen war. Er war ein Teil Burmas geworden. Nun wurde das London, das er hinter sich verschlossen und verriegelt hatte, ebenfalls zu einem Teil dieses Landes – und natürlich mussten sich die beiden Teile in der Fremde finden, konnten sich nicht aus dem Weg gehen, waren vom Schicksal aneinander gekettet und kamen nie voneinander los.
    Der Bischof hatte angeordnet, alle seine Missionare sollten ihr Quartier in den Häusern beziehen. Es war unter Alans betagteren Begleitern zu einigen Todesfällen gekommen, die man auf die schlechte Wohnsituation zurückführte.
    Spareborne hatte erwägt, sich gegen die Entscheidung aufzulehnen. Doch dann erkannte er, wie unklug es wäre – schon einmal hatte er sich gegen das Bischofswort zu sträuben versucht, damals, als man ihn aus dem vertrauten London ins fremde Mandalay sandte. Schlussendlich hatte er sich gefügt, und es war bei weitem das Beste für ihn gewesen.
    Er steckte den Schlüssel in das Schloss seiner Wohnungstür. Ein kleines Zimmer wartete dahinter auf ihn. Ein winziges Stück England, wie ein Holzsplitter aus dem Sarg der vor zwei Jahren verstorbenen Königin Victoria. Das Königreich hatte sich unter König Edward noch nicht vom Erbe der mächtigsten aller Königinnen gelöst. Es schmeckte noch immer schal und verknöchert, ein Reich, in dem alte, mit Fantasieorden behangene Männer das Sagen hatten. Je öfter Alan an England dachte, desto mehr verabscheute er es.
    Der Schlüssel drehte sich nicht. Die Tür war nicht abgeschlossen gewesen.
    Das Zimmermädchen – die einzige Person außer ihm, die einen Schlüssel besaß – hatte sich offenbar zum ersten Mal der Unachtsamkeit schuldig gemacht.
    Er stieß die Tür auf. Es gab nicht viel, das es zu stehlen lohnte. Zwei wichtige Gegenstände befanden sich in einer mehrfach verschlossenen Holztruhe, die …
    Alan Spareborne taumelte ins Zimmer.
    Die Holztruhe war unversehrt.
    Doch auf seinem Bett lag in ihrem Blut die junge Frau, die seine Kammer saubermachte.
    Ihre Kehle war mit einem sauberen Schnitt durchtrennt worden. Die rechte Wand und ein Teil der Zimmerdecke waren mit dem Blut aus ihrer Aorta bedeckt. Ein Bild, das Jesu Auferstehung zeigte, war geradezu im Blut gebadet worden, als wäre es dem Mörder gelungen, mit dem hervorschießenden Körpersaft des armen Mädchens darauf zu zielen.
    Auf der linken, in beiger Farbe gestrichenen Wand prangte – offenbar mit dem Blut der Toten geschrieben – in hässlichen Druckbuchstaben eine Botschaft. Fünf Worte nur.
    DER RIPPER IST IN MANDALAY.

3
    Das Schiff, das der Kunstmaler Walter Sickert am 10. Mai 1903 im französischen Dieppe bestieg, nahm eine große Zahl Reisender auf, die bereits einen weiten Weg hinter sich hatten. Viele kamen aus Indien oder den britisch besetzten Ländern „dahinter“, und die bunte Mischung aller Rassen und Berufsstände, die sich an Bord aufhielten und sich gegenseitig mit unverhohlener Neugier musterten, regte seine Fantasie an. Mehrere Bilder entstanden in seiner Vorstellung, und er fertigte eine Zahl von Skizzen an, wie er es stets tat, wenn
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