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Überraschung kommt selten allein

Überraschung kommt selten allein

Titel: Überraschung kommt selten allein
Autoren: D Holt
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    Abend in Angst
    S päter – viel später – dämmerte es Alberta, dass sie Tony ganz sicher nach dem Anruf gefragt hätte, wäre sie nicht Gastgeberin des absolut peinlichsten Essens in ihrem ganzen Leben gewesen. Wahrscheinlich hätten sie darüber gesprochen, und ihr weiteres Leben wäre möglicherweise ganz anders verlaufen.
    Alberta fragte Tony nicht nach dem Anruf, weil sie fieberhaft versuchte, das von ihr ungewollt angestiftete Unheil nicht noch schlimmer zu machen. Und doch wurde es schlimmer und schlimmer, je mehr sie sich abmühte.
    Normalerweise lud Alberta nicht zum Abendessen ein. Als Mitinhaberin von Besonderes in Bath – Exquisites Essen für große und kleine Feste bestand ihr Job darin, köstliche Mahlzeiten für Menschen zuzubereiten, die keine Zeit zum Kochen hatten. Demzufolge war der Gedanke, in ihrer Freizeit für einen bunten Haufen Gäste, die sich untereinander nicht kannten, ein Drei-Gänge-Menü zu kochen, für sie ungefähr so verlockend wie für einen Arzt ein fröhlicher Abend mit Freunden, die ausschließlich über ihre körperlichen Gebrechen sprachen.
    Der eigentliche Grund für die Party – Dankbarkeit – ließ das Debakel nur noch bedauernswerter erscheinen. Alberta und Tony hatten Erica Wright bei einem Elternabend zu Beginn des Sommertrimesters kennengelernt. Miss Wright war seit Kurzem die neue Oberstufenkoordinatorin der Schule und die erste Lehrerin, die an Jacob nicht verzweifelte oder ihn für selbstherrlich oder total eingebildet hielt. Tatsächlich, erklärte Miss Wright, sei er reizend und scharfsinnig und mit einem klaren Verstand gesegnet. Alberta und Tony sahen ihren Sohn plötzlich mit neuem Respekt an und verließen die Aula leicht benommen und gut gelaunt, gefolgt von einem selbstgefällig grinsenden Jacob.
    Eine Woche später, am ersten Mai, traf Alberta Jacobs Lehrerin wieder, diesmal in ihrer Pilatesstunde. Normalerweise hätte Alberta eine Frau wie Erica niemals angesprochen. Erica überragte Alberta, deren Statur man großzügig als zierlich bezeichnen könnte, um mindestens fünfzehn Zentimeter. Ericas Haare fielen wie schimmernde Seide auf ihre Schultern. Albertas strohblonde Locken waren irgendwie auf dem Kopf zusammengebunden, und der herausgewachsene Pony weigerte sich, ordentlich hinter den Ohren zu bleiben. Erica, groß, schlank und anmutig, sah umwerfend aus, in der blassgrauen Yogahose und dem pinkfarbenen T-Shirt. Alberta, klein und dünn und mit, wie sie fand, großen Brüsten gestraft, wirkte dagegen absolut unscheinbar, in ihren Leggings, dem weiten Polohemd und der langen, blauen Strickjacke.
    Dennoch trieb die Erinnerung an Ericas balsamähnliche Worte Alberta zu ungewöhnlich zielsicherem Handeln. Am Ende der Stunde ging sie auf Erica zu und sagte: »Miss Wright? Mein Name ist Alberta Granger. Wir haben uns beim Elternabend kennengelernt …«
    Miss Wright lächelte. »Bitte nennen Sie mich Erica. Sie sind die Mutter von dem wunderbaren Jacob.«
    Da klang keine Ironie in Ericas Stimme mit. Erica fand Jacob offensichtlich wirklich wunderbar. Angesichts solch erstaunlicher Scharfsicht durchströmte Alberta eine Welle der Sympathie. Schnell sagte sie: »Wir haben uns so sehr über Ihre Beurteilung gefreut. Haben Sie es eilig, oder darf ich Sie auf ein Glas Wein einladen?«
    Erica zögerte. »Ich habe einen Berg Korrekturen, aber … ach, warum nicht! Die können auch noch eine halbe Stunde warten.«
    In einem nahe gelegenen, gemütlichen Weinlokal saßen die beiden Frauen nebeneinander, ein großes Glas Chenin Blanc vor sich, und Alberta bemühte sich, das Rätsel namens Jacob zu erklären. »Normalerweise sind wir nach einem Elternabend ziemlich geknickt. Ich weiß nicht, warum, aber Jacob scheint die Angewohnheit zu haben, all seine Lehrer gründlich zu verärgern. Ich meine, ich weiß, dass er in mancher Hinsicht ziemlich ungewöhnlich ist …«
    »Er ist ein schlauer Bursche«, sagte Erica, »und hat eine erfrischend exzentrische Art, das Leben zu betrachten.«
    »Ja«, sagte Alberta unbestimmt und unterließ die Bemerkung, dass sie die Ansichten ihres Sohnes meistens ziemlich unverständlich fand, und wenn sie sie verstand, fühlte sie sich jedes Mal unwohl. Manchmal hatte sie das Gefühl, Jacob und sie lebten in verschiedenen Welten.
    »Was ich an Jacob mag«, sagte Erica, »ist, dass er keine der üblichen pubertären Tendenzen zur inneren Nabelschau zeigt oder zu testosterongesteuerten Fantasien. Er scheint eine außergewöhnlich
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